Mit
den Jahren wurde Elisabeth Schwerbrock die gute Seele des damaligen
Modehauses, die die Zügel fest in der Hand hielt. Der hohe Anspruch, den
sie an sich selbst hatte, galt auch für ihre Angestellten. So war es
nicht verwunderlich, dass sich auch die Verkäuferinnen durch äußerste
Liebenswürdigkeit und Sachkunde aus-zeichneten. Sie wussten genau, was
die Kundschaft erwartete.
Wer waren die Kundinnen im Modehaus Schwerbrock?
In der Mehrzahl die Frauen des gehobenen Bürgertums, der Warendorfer
Kaufmannschaft, der Industrie und der höheren Beamten, natürlich
auch Arztfrauen, Rechtsanwaltsfrauen und die wohlhabenden
Gutsbesitzerfrauen aus dem Umland, also all die Frauen, die „etwas auf
sich hielten“, die durch
ihre
Kleidung zeigen wollten, dass sie etwas Besseres waren.
Eine langjährige Verkäuferin erzählte: „Wenn eine
Kaufmannsfrau ins Geschäft kam, dann wussten wir: Sie hat es eilig, sie
wird in ihrem Geschäft gebraucht. Die Kleidergröße konnten wir jeder
Kundin sofort ansehen und wir kannten auch ihren Stil und ihre
Vorlieben. Schnell erfuhren wir, für welchen Zweck das Kleidungsstück
gebrauchte wurde und wir suchten aus dem reichhaltigen Angebot etwas
heraus. Meistens war das erste Kleid schon das richtige, was sich beim
Anprobieren schnell zeigte.“
Frau Schwerbrock hatte schon beim Einkaufen der
neuen Kollektion die Bedürfnisse ihrer Kunden vor Augen und nach dem
Eintreffen der neuen Ware rief sie gute Kundinnen an, für die sie etwas
Besonderes mitgebracht hatte. Natürlich bot das Modehaus Schwerbrock nur
Markenware von wohlrenommierten Firmen an und die Preise waren auch
recht stattlich.
Wenn zu Mariä Himmelfahrt die Altstadt mit roten Bungen beleuchtet und
die Schau-fenster festlich geschmückt wurden, war Schwerbrocks
Schaufenster ein besonderer Anzie-hungspunkt, denn die Warendorfer
wuss-ten, dass Frau Schwerbrock in jedem Jahr ein ganz besonderes
Marien-bildnis ausstellte und es mit einer traumschönen Blumendekoration
schmückte.
Neben ihren vielseitigen Aufgaben als Geschäftsfrau
wollte Elisabeth Schwerbrock sich auch für ihre Heimatstadt engagieren.
Schon 1929 wurde sie zur Stadtverordneten gewählt. Auch bei den
Kommunalwahlen an 12. März 1933 zogen zwei Zentrums-Frauen in das
Stadtparlament ein: die 59jährige Clara Schmidt und die 47jährige
Elisabeth Schwerbrock. Aber die politischen Verhältnisse änderten sich
schnell. Das Zentrum konnte sich trotz einer eindeutigen Mehrheit nicht
gegen die NSDAP behaupten und löst sich am 5. Juli 1933 selbst auf. Der
Bürgermeister und die
Stadtverordneten
wurden nun nicht mehr demokratisch gewählt, sondern sie wurden durch den
Beauftragten der NSDAP ernannt. Die gewählten Politiker hatten nur noch
beratende Funktion. Karl Zuhorn, der damalige Bürgermeister von Münster,
nannte sie sehr bezeichnend „Nickköpper“. Das wollten aber die meisten
der neu gewählten Zentrumsabgeordneten nicht sein. Auch Clara Schmidt
und Elisabeth Schwerbrock standen für diese Politik nicht zur Verfügung,
sie gaben ihr Mandat auf.
Während der Zeit der braunen Diktatur versuchte
Elisabeth Schwerbrock nach Kräften, den in Not geratenen Warendorfern zu
helfen. Das gefiel der Gestapo gar nicht. Sie wurde mehrere Male vor ein
NS-Gericht gestellt, aber mit ihrer Zielstrebigkeit und ganz sicher auch
mit ihrem Charme hat sie ihren Kopf immer wieder aus der Schlinge
gezogen. Elisabeth Schwerbrock ließ sich nicht einschüchtern. Ihre tiefe
Religiosität gab ihr Kraft und Stehvermögen.
Mit dem Kriegsende war diese tägliche Gefahr zu
Ende, die Not der Menschen aber war nicht behoben. Warendorf war
überfüllt mit Evakuierten aus den zerbombten Großstädten, freien
Wohnraum gab es nicht und der Kampf ums tägliche Brot war Normalität.
Die Wasser- und Elektrizitätsversorgung reichte nicht aus und die völlig
veraltete Kanalisation brach vielfach zusammen. Gut, dass viele Häuser
in der Stadt noch eine eigene Senkgrube hatten.
Sehr überraschend kam nach Kriegsende noch eine
zusätzliche Herausforderung auf das Landstädtchen Warendorf zu. Im
September 1945 mussten Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten,
vornehmlich aus Schlesien und Ostpreußen, in dem zentralen Auffanglager
im Warendorfer Landgestüt untergebracht werden. Die Hengste befanden
sich schon seit Kriegsende auf den Deckstationen, denn seit April 1945
wurde das Gestüt als Lager für die „Displaced Persons“ (DP) genutzt,
also für die ehemaligen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die während
des Krieges unter oft erbärmlichen Bedingungen in Betrieben und auf
Bauernhöfen arbeiten mussten. Vor ihrer Rückführung in die Heimat hatte
man sie in Sammelunterkünften im Gestüt und in der ehemaligen Reit- und
Fahrschule an der Tönneburg untergebracht. Bis zu 10 000 DPs
verschiedenster Nationen lebten hier auf engstem Raum, unter unsäglichen
Hygienebedingungen auf Strohlagern kampierend. Auch für das Gestüt war
das eine schlimme Situation. Die Zerstörungen waren beträchtlich, alle
hölzernen Einbauten wurden in den Kochfeuern verfeuert, ebenso die
Bilder, Bücher und Akten und wichtige Dokumente. Als ab September 1945
das Gestüt als Notunterkünfte für die erwarteten Ostflüchtlinge
vorbereitet werden musste, konnte man nicht viel mehr tun, als Notbetten
aufzubauen, ansonsten aber die Pferdeboxen mit frischem Stroh zu
bestreut, damit hier die Flüchtlinge, die nicht nur ihre Heimat, sondern
auch ihre gesamte Habe verloren hatten, wenigstens ein Nachtlager
hatten.
Am 21. Oktober 1945 traf der erste „Elendszug“ mit
1606 Flüchtlingen ein. Hier war schnelle Hilfe gefragt. Die englischen
Besatzungstruppen hatten den katholischen Elisabeth-Verein um Hilfe
gebeten. Die Vorsteherin Elisabeth Schwerbrock und Anni Carle´ machten
sich auf die Suche nach einer freiwilligen Hilfstruppe. Sie gingen in
die Familien und baten vor allem die jungen Mädchen um Mithilfe. Diese
waren zwar schon dienstverpflichtet, aber trotzdem fanden sich viele
bereit, bei der ersten Versorgung der Flüchtlinge zu helfen.
Da diese Einsatze fast ausschließlich nachts
stattfanden, hatte
Elisabeth Schwerbrock von der englischen Besatzungsmacht ein kleines
Auto, einen VW, zur Verfügung gestellt bekommen, um die jungen
Helferinnen in den Nachtstunden wieder nach Hause bringen zu können,
denn die nahe gelegenen Russen- und Polenlager stellten immer noch eine
große Gefahr dar.
Etwa jede zweite Nacht trafen Güterzüge mit etwa
1000 Menschen in Warendorf ein. Unter menschenunwürdigen Bedingungen
waren diese Flüchtlinge und Vertriebenen im Rahmen der Massenvertreibung
aus dem Osten in den Westen transportiert worden. Von den 25 kg Gepäck,
die sie bei ihrer Vertreibung mitnehmen durften, war in den meisten
Fällen nicht viel übrig geblieben. Zu oft waren sie auf ihren langen Weg
ausgeraubt worden.
In Begleitung der Polizei, des Roten Kreuzes und
einiger Kriegsgefangener schafften viele Flüchtlinge nur mit
letzter Kraft den Fußmarsch vom Bahnhof in Warendorf zum Landgestüt. Die
große, allerdings ungeheizte Reithalle war der erste Sammelplatz. Welch
ein Lichtblick! In den hinteren Räumen der Halle war eine Küche
eingerichtet worden, wo belegte Brote geschmiert wurden und Suppe für
alle bereit stand. Das Essen wurde in der Volksküche im Marienheim
gekocht. An langen Tischen gaben die jungen Helferinnen die kräftige
Suppe aus. Für viele war das die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Leider
waren auch hier die Vorräte begrenzt und die jungen Mädchen an den
Ausgabetischen mussten sehr aufpassen, dass nicht die Schwächeren, vor
allem die Mütter mit den kleinen Kindern, zurückgedrängt wurden. Jeder
kämpfte ums eigene Überleben. Sehr bald sahen die beiden
Organisatorinnen Frau Schwerbrock und Frl. Carle´, dass männliche Hilfe
notwendig war, um die Schlangen vor den Tischen zu ordnen.
Bis September 1946 wurden 48 500 Ostvertriebene
durch das Warendorfer Durchgangslager geschleust, eine immense
logistische Aufgabe. Wie gut, dass es Frauen wie Elisabeth Schwerbrock
und Anni Carle´ gab, die sich dieser schwierigen Aufgabe annahmen.
Traf ein Flüchtlingstransport in Warendorf ein, und
das war immer mitten in der Nacht, standen diese Frauen am Bahnhof, um
sich der Hilfsbedürftigsten anzunehmen. Alle Ankommenden wurden
registriert, mit DDT Pulver entlaust, die Kranken versorgte ein
Notfalldienst und alle bekamen eine erste provisorische Bleibe im
Landgestüt. Nach zwei bis drei Tagen wurden diese Flüchtlinge dann auf
die Gemeinden des Kreises Warendorf verteilt, wo sie eine neue Heimat
finden konnten.
Nach dem Krieg wurden bald auch die politischen
Strukturen wurden in Warendorf wieder neu aufgebaut. Am 29.April 1946
ernannte die Militärregierung die ersten Stadtbeiräte. Elisabeth
Schwerbrock gehörte zu den 14 Stadtbeiräten der neu entstandenen CDU,
deren Mitbegründerin sie war.
Am
15.September 1946 fanden die ersten Kommunalwahlen statt. Elisabeth
Schwerbrock wurde in den ersten demokratisch gewählten Stadtrat gewählt.
Die Sorge für die Flüchtlinge und die Vertriebenen waren eines der
größten Probleme der Stadt. Darum wurde ein Flüchtlingsamt eingerichtet.
Die Leitung übernahm der ehemalige Stadtkommandant Oberst Hans Winkel,
der sich Ostern 1945 bei der Übergabe der Stadt zusammen mit Theodor
Lepper und Heinrich Blum sehr verdient gemacht hatte. Dem
Flüchtlingsbeirat gehörten auch Elisabeth Schwerbrock, Josef Heinermann,
Heinrich Blum und Theodor Westermann an.
Um der Flüchtlingsproblematik Herr zu werden,
setzte die Militärregierung einen Flüchtlingsausschuss ein. Er bestand
je zur Hälfte aus Flüchtlingen und Einheimischen. Die Stadt wurde in
zehn Betreuungsbezirke aufgeteilt. Jedes Beiratsmitglied war für einen
Bezirk persönlich verantwortlich. Im September 1946 übernahm Heinrich
Windelen als Flüchtling den Vorsitz des Beirates, Elisabeth Schwerbrock
wurde seine Stellvertreterin.
Auch nach zwei Jahren, bei der Kommunalwahl von
1948, wurde Elisabeth Schwerbrock mit großer Mehrheit wieder in
den
Rat der Stadt Warendorf gewählt und sie war sehr froh, dass Josef
Heinermann von allen Parteien zum Bürgermeister gewählt wurde, denn sie
wusste, dass er ein offenes Ohr für die Nöte der Menschen hat. Der neue
Stadtdirektor war Dr. Paul Eising.
Bis 1956 war Elisabeth Schwerbrock Ratsherrin, die Bezeichnung
„Ratsfrau“ gab es damals noch nicht. Dann beendete sie, mittlerweile war
sie die Alterspräsidentin des Rates, ihre Ratstätigkeit und die
Warendorfer mussten Abschied nehmen von der Ratsherrin, die immer
korrekt gekleidet im klassischen schwarzen Kostüm zu den Ratssitzungen
kam und die den offiziellen Anlässen dieser Männergesellschaft durch
ihre elegante Erscheinung mit großen Hüten ein festliches Gepräge gab.
Zu ihrem 70. Geburtstag, am 3. Februar 1956 ehrte
die Bundesrepublik Deutschland diese engagierte Frau mit dem
Bundesverdienstkreuz. Fünf Jahre später zeichnete die Kirche sie mit dem
Orden „Pro ecclesia et pontifice“ aus.
Am Vorabend der Vollendung ihres 80. Geburtstages,
am 2. Februar 1966 wurde Elisabeth Schwerbrock in einer
außerordentlichen Ratssitzung im historischen Ratssaal vom Bürgermeister
Dr. Hans Kluck der Ehrenring der Stadt Warendorf verliehen. Damit fand
ihre unermüdliche Arbeit zum Wohle der Bürgerschaft auch in ihrer
Heimatstadt eine gebührende Anerkennung und Würdigung. Die Liste ihrer
politischen Arbeitsbereiche in über 40 Jahren war lang. Sie reichte vom
Wohnungsausschuss, dem Wohlfahrts- und Fürsorgeausschuss, dem
Flüchtlingsausschuss, dessen Vorsitzende sie war, dem Ausschuss für das
Schulwesen, dem Hauptausschuss, dem Kuratorium für das städt. Marienheim
und dem Zweckverbandsausschuss zur Errichtung einer Gedächtniskapelle
bis zum Gewerbe- und Verkehrsausschuss. Außerdem war sie immer noch die
Vorsitzende des Elisabeth-Vereins, der sich in erster Linie um alte
Menschen kümmerte und die stellv. Vorsitzende des örtlichen
Caritasverbandes und die Vorsitzende des Kuratoriums der Altenstube.
Nach Beendigung des Ratsmandates stellte Elisabeth
Schwerbrock sich noch bis 1974 als sachkundige Bürgerin im Wohlfahrts-
Wohnungs- und Fürsorgeausschuss zur Verfügung und im Kuratorium für das
Marienheim. Wegen ihres großen sozialen Engagements wurde sie im
Volksmund gern „die hl. Elisabeth“ genannt.
Sie starb am 22. Januar 1984 im Alter von fast 98
Jahren und wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung hier in der
Schwerbrockschen Familiengruft begraben.
In dem kleinen Baugebiet an der Dr.- Rau-Allee
wurde als Erinnerung an diese engagierte und verdienstvolle Bürgerin
eine Straße nach ihr benannt, die „Elisabeth-Schwerbrock-Straße“.
Quellen:
Geschichte der Stadt Warendorf Band II S. 201 ff
Elisabeth Ketteler-Zuhorn: Warendorf zum Kriegsende und die ersten
Flüchtlingszüge in Warendorfer Schriften Band 33-35 2005
Peter Wild: "Flüchtlinge auf Herbergssuche heute und damals" aus: „Die
Glocke“ vom 24.12.2014
Berichte von Zeitzeugen
Bilder: Archiv der „Glocke“ und Mechtild Wolff
Heinrich Blum, von allen "Mister Blum" genannt
Franz Joseph
Zumloh, der Begründer des Josephshospitals
Maria Anna
Katzenberger und Heinrich Ostermann
Hermann Josef
Brinkhaus,
Gründer der Firma Brinkhaus
Eduard
Wiemann und die Villa Sophia
Anna
Franziska Lüninghaus, Gründerin der Marienstiftung
Wilhelm
Zuhorn, Geheimer Justizrat und Geschichtsforscher
Bernard
Overberg, der Lehrer der Lehrer
Arthur
Rosenstengel, Seminarlehrer, Musikerzieher und Komponist
Pauline
Hentze, Begründerin der Höheren Töchterschule
Franz
Strumann, Pastor und Förderer der höheren Mädchenbildung
Dr. Maria
Moormann, die mutige Direktorin der Marienschule
Josef Pelster,
der Schulrat und Naturfreund
Wilhelm
Diederich, Bürgermeister von 1869-1904
Hugo
Ewringmann, Bürgermeister von 1904-1924
Theodor
Lepper, Stadtrendant und Retter in den letzten Kriegstagen
Clara Schmidt,
Kämpferin für die Frauenliste im Stadtparlament
Elisabeth
Schwerbrock, eine hochengagierte Stadtverordnete,
Eugenie
Haunhorst, die Kämpferin für ihre Heimatstadt
Paul Spiegel,
Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland
Paul
Schallück, der vergessene Nachkriegsschriftsteller
Heinrich
Friedrichs, ein Warendorfer Künstler
Theo
Sparenberg, Kinokönig und Tanz- und Anstandslehrer
Wilhelm
Veltman, Retter der historischen Altstadt
Rainer. A. Krewerth, ein schreibender Heimatfreund
Prof. Dr. Alfons
Egen
ein begnadeter Lehrer und Heimatfreund
Änneken Kuntze und ihre Schwester Lilli
Elisabeth Schwerbrock, Stadtverordnete in Warendorf
Anni Cohen und ihre Familie - von Warendorf nach Südafrika und Palästina
Eduard Elsberg erbaute das erste große Kaufhaus in Warendorf