Paul Spiegel wurde am 31. Dezember 1937 in
Warendorf geboren. Seine Eltern stammten aus
dem ländlich-kleinstädtischen Milieu
westfälischer Juden. Vater Hugo Spiegel
(1905-1987) wuchs in Versmold auf, Mutter
Ruth Weinberg (1907-1974) kam aus Rheda.
Hugo Spiegel ließ sich in den späten 1920er
Jahren in Warendorf nieder und begründete
eine Viehhandlung. Das Ehepaar heiratete
1930 und wohnte fortan in der Schützenstraße
17. 1931 wurde Tochter Rosa geboren. Die
Eltern Paul Spiegels wollten, wie so viele
deutsche Bürger jüdischer Konfession, zu
Beginn der nationalsozialistischen Unrechts-
und Gewaltherrschaft die Bedrohung durch den
rassistischen Antisemitismus nicht
wahrhaben. Die zunehmende Diskriminierung im
Alltag und die existenzgefährdende
Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben, dann
aber vor allem die Brutalität des
November-Pogroms von 1938 führten zum
Umdenken und Handeln. Zuerst wurde Schwester
Rosa in den Niederlanden untergebracht, dann
flüchtete Vater Hugo nach Brüssel. Im
Frühjahr 1939 holte er die Familie in die
belgische Hauptstadt nach.
Mit der Besetzung Belgiens wurde die Familie
auseinander gerissen. Erst wurde der Vater
Hugo verhaftet und interniert, dann wurde
die Schwester Rosa im Oktober 1942 in
Brüssel auf offener Straße verschleppt.
Rosas Schicksal blieb der Familie lange
unbekannt. Erst Anfang 2000, wenige Wochen
nach seiner Wahl zum Zentralratspräsidenten
der Juden in Deutschland, erlangte Paul
Spiegel Gewissheit, dass seine Schwester in
das Vernichtungslager Auschwitz deportiert
worden war, wo sie im November 1942 vergast
worden ist. In Brüssel lebte Paul Spiegel
mit seiner Mutter Ruth in der Obhut der
Familie Blomme, in dessen Metzgerei der
Vater bis zu seiner Verhaftung gearbeitet
hatte, später allein bei Pflegeeltern in
einem Brüsseler Vorort. Dank der Hilfe
jüdischer Untergrundorganisationen fand die
Mutter einen Unterschlupf für den Sohn in
einem Dorf in der Nähe von Namur. Spiegel
wuchs, wie er selbst sagte, als
„wallonischer Bauernbub“ auf unter dem
Schutz einer Bauernfamilie und des
Dorfpfarrers bis zur Befreiung durch die
Amerikaner zur Jahreswende 1944/45. Die
Mutter holte Paul nach Brüssel zurück. Die
Vorbereitungen waren getroffen, um in die
USA auszuwandern, als sie die Nachricht
erhielten, dass auch Hugo Spiegel die Shoah
überlebt hatte und nach seiner Befreiung im
Konzentrationslager Dachau nach Warendorf
zurückgekehrt war. Seit dem Frühsommer 1945
lebte Familie Spiegel wieder in Warendorf.
Zuerst kam sie für kurze Zeit im Haus der
Familie Baggeroer am Krickmarkt unter, bevor
sie dann in das Haus Oststraße 7 zog. Hugo
Spiegel baute die Viehhandlung mit Erfolg
wieder auf.
Das Haus der Spiegels wurde zum Mittelpunkt
einer kleinen jüdischen Gemeinschaft. Am 7.
September 1945 kam es auf Initiative von
Hugo Spiegel zu dem ersten jüdischen
Gottesdienst im Münsterland, nachdem Spiegel
die von Heinrich Baggeroer aus der
geschändeten Synagoge geretteten
Kultgegenstände erhalten hatte. Hugo Spiegel
empfand nicht zuletzt wegen dieser Geste ein
Gefühl von Heimat und auch Zuversicht, um
mit seiner Familie in Warendorf auf Dauer
bleiben zu können. Paul Spiegel besuchte die
Volksschule, dann das Gymnasium
Laurentianum. Die Renaissance jüdischen
Lebens in Warendorf und in Münster, aber
auch antijüdische Vorbehalte vor allem in
der frühen Nachkriegszeit machten ihm sein
Jüdischsein erstmals bewusst. Spiegels Bar
Mizwa am 6. Januar 1951, gefeiert in der
sich im Wiederaufbau befindlichen Jüdischen
Gemeinde in Münster, war die erste Feier der
Religionsmündigkeit im Münsterland nach der
Shoah.
1955 erfolgte der Umzug der Familie und des
Geschäfts in die Sassenberger Straße 38.
Drei Jahre später verließ Paul Spiegel seine
Geburtsstadt Warendorf und fand in
Düsseldorf seine neue Heimat. Spiegel
erlernte das journalistische Handwerk bei
der „Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung“ in
Düsseldorf. Später arbeitete er als
politischer Korrespondent für deutsche und
ausländische Zeitungen und zwölf Jahre lang
als Pressechef des Rheinischen Sparkassen-
und Giroverbandes. 1986 gründete Spiegel
eine internationale Künstler- und
Medienagentur. In der Jüdischen Gemeinde
Düsseldorf übernahm Spiegel seit 1967 eine
Reihe von Ehrenämtern, später auch im
Landesverband der Jüdischen Gemeinden
Nordrhein. Seit 1993 war er einer der beiden
Stellvertreter des Präsidenten des
Zentralrats der Juden in Deutschland. In den
Mittelpunkt des öffentlichen Interesses
rückte Spiegel mit seiner Wahl zum
Präsidenten des Zentralrats am 9. Januar
2000. Sein Name wird mit dem Staatsvertrag
zwischen dem Zentralrat der Juden und der
Bundesrepublik Deutschland verbunden
bleiben, der am 27. Januar 2003
unterzeichnet wurde und die Grundlage des
deutsch-jüdischen Verhältnis in der Berliner
Republik bildet.
Spiegel repräsentierte die Juden in
Deutschland in einer für die jüdische
Gemeinschaft schwierigen Zeit. Der
Generationenwechsel in den Gemeinden, aber
auch die starke Zuwanderung osteuropäischer
Juden seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
lässt die Shoah-Überlebenden und die in
Deutschland nach 1945 sozialisierten Juden
zur Minderheit werden. Neben der Integration
der Juden in ihren Kultusgemeinden galt
Spiegels Augenmerk der
demokratisch-pluralistischen Kultur in
unserer Gesellschaft. Rechtsradikalismus,
Fremdenhass und Antisemitismus, so fürchtete
Spiegel zu Recht, gefährden nicht nur die
Integration der jüdischen Bürgerinnen und
Bürger, sondern stellen die Grundprinzipien
der Zivilgesellschaft in Frage. Spiegel, und
das hob ihn über den Rang eines
Repräsentanten der Juden in Deutschland
hinaus und ließ ihn zu einem streitbaren
Demokraten werden, wurde nicht müde zu
betonen, dass die Diskriminierung von
Minderheiten und der Antisemitismus erst
dann erfolgreich und nachhaltig bekämpft
werden können, „wenn unsere Gesellschaft die
Angriffe auf Minderheiten als Angriffe auf
die Demokratie als Ganzes versteht.“ Als
Zeitzeuge verwies er auf die Verletzbarkeit
der Menschenrechte und setzte sich als
Demokrat für die Achtung der Menschenwürde
ein.
Schon bald nach seiner Wahl legte Spiegel
seine Erinnerungen „Wieder zu Hause?“ (2001)
und eine Einführung in die Religion und
Kultur des jüdischen Lebens unter dem Titel
„Was ist koscher?“ (2003) vor. Zu den vielen
Auszeichnungen, die Spiegel erhalten hat,
nehmen die Ehrungen seiner Geburtsstadt
einen besonderen Platz ein: Am 5. September
2001 verlieh ihm die Stadt Warendorf das
Ehrenbürgerrecht, am 25. Oktober 2004
würdigte ihn der Heimatverein mit der
Verleihung der Wilhelm-Zuhorn-Plakette. In
den letzten Jahren forderte Paul Spiegel
eine Weiterentwicklung des Gedenkens an die
Opfer der Shoah in der Emsstadt ein. Der
Arbeitskreis „Jüdisches Leben in Warendorf“
und die Stadt Warendorf erarbeiteten mit ihm
zusammen ein Konzept, das schließlich zur
Umgestaltung des Vorplatzes des Jüdischen
Friedhofs vor dem Münstertor und zur
Errichtung einer neuen Gedenkstele führen
sollte. Das gemeinsame Vorhaben lag ihm
besonders am Herzen, haben doch seine Eltern
Ruth und Hugo Spiegel auf dem Friedhof vor
dem Münstertor ihre letzte Ruhestätte
gefunden. Der Ehrenbürger der Stadt
Warendorf hat die Übergabe von Vorplatz und
Gedenkstele an die Öffentlichkeit am 24. Mai
2006 nicht mehr miterleben können. Paul
Spiegel verstarb am 30. April 2006 in
Düsseldorf, wo er am 4. Mai beerdigt worden
ist. Paul Spiegel hinterlässt seine Frau
Gisèle und die Töchter Leonie und Dina.
Matthias M. Ester
Bildunterschrift:
Paul Spiegel bei der Lesung aus seinem Buch
„Was ist koscher?“ Foto: Von Stockum/Die
Glocke.
Heinrich Blum, von allen "Mister Blum" genannt
Franz Joseph
Zumloh, der Begründer des Josephshospitals
Maria Anna
Katzenberger und Heinrich Ostermann
Hermann Josef
Brinkhaus,
Gründer der Firma Brinkhaus
Eduard
Wiemann und die Villa Sophia
Anna
Franziska Lüninghaus, Gründerin der Marienstiftung
Wilhelm
Zuhorn, Geheimer Justizrat und Geschichtsforscher
Bernard
Overberg, der Lehrer der Lehrer
Arthur
Rosenstengel, Seminarlehrer, Musikerzieher und Komponist
Pauline
Hentze, Begründerin der Höheren Töchterschule
Franz
Strumann, Pastor und Förderer der höheren Mädchenbildung
Dr. Maria
Moormann, die mutige Direktorin der Marienschule
Josef Pelster,
der Schulrat und Naturfreund
Wilhelm
Diederich, Bürgermeister von 1869-1904
Hugo
Ewringmann, Bürgermeister von 1904-1924
Theodor
Lepper, Stadtrendant und Retter in den letzten Kriegstagen
Clara Schmidt,
Kämpferin für die Frauenliste im Stadtparlament
Elisabeth
Schwerbrock, eine hochengagierte Stadtverordnete,
Eugenie
Haunhorst, die Kämpferin für ihre Heimatstadt
Paul Spiegel,
Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland
Paul
Schallück, der vergessene Nachkriegsschriftsteller
Heinrich
Friedrichs, ein Warendorfer Künstler
Theo
Sparenberg, Kinokönig und Tanz- und Anstandslehrer
Wilhelm
Veltman, Retter der historischen Altstadt
Rainer. A. Krewerth, ein schreibender Heimatfreund
Prof. Dr. Alfons
Egen
ein begnadeter Lehrer und Heimatfreund
Änneken Kuntze und ihre Schwester Lilli
Elisabeth Schwerbrock, Stadtverordnete in Warendorf
Anni Cohen und ihre Familie - von Warendorf nach Südafrika und Palästina
Eduard Elsberg erbaute das erste große Kaufhaus in Warendorf