Elly Grützner: Der letzte Leineweber von Warendorf |
Der 7. März 1932 ist für die Gemeinde Gröblingen ein besonderer Festtag.
Beginnt doch an diesem Tage der älteste Einwohner der Gemeinde und des
Kreises sowie wohl der älteste Handweber Deutschlands, der Weber und Ackerer
Bernhard Niehues, „Opa Niehues“ sein 100. Lebensjahr. Bei seinem letzten
Geburtstag konnte man daran zweifeln, ob „Opa Niehues“ den 7. März 1932
erleben würde, denn er war ernstlich erkrankt und mit den heiligen
Sterbesakramenten versehen worden. Aber der liebe Gott schenkte ihm die
Gesundheit wieder, wenn auch das Gehör etwas gelitten hat. Das Bild, das wir
zu seiner Ehre heute noch mal bringen, zeigt das Geburtstagskind wieder beim
Verrichten landwirtschaftlicher Arbeiten. Sonst ist Opa Niehues in seinem
Leben nie ernstlich krank gewesen, nur vor etwa neun Jahren musste er seine
Tätigkeit wegen Überarbeitung auf etwa 8-14 Tage aussetzen.
An seinem 90. Geburtstag hat Opa Niehues noch zu Fuß eine
Wallfahrt nach Telgte gemacht. Er ist von altem Schrot und Korn,
pflichteifrig und treu, ein einfacher Biedermann, der in der Gemeinde
und bei seinen Bekannten geachtet und geschätzt wird.
Bis vor etwa 1½ Jahren verbrachte Niehues noch den größten Teil
des Tages am Webstuhl. Täglich wurden noch 6 Ellen (drei Ellen sind ein
Meter) gefertigt, während früher 12-16 Ellen fertig wurden. Der
Webstuhl, den Niehues benutzte, stammt aus dem Jahr 1813. Er hat ihn im
Herbst 1907 verkauft. Ein zweiter Webstuhl steht untätig in der Stube.
Er stammt aus dem Jahr 1738. Ihn hat der Vater des alten Niehues
benutzt. Leuchtenden Auges erzählt Opa Niehues noch gern, wie er und
sein Webstuhl im Sommer 1928 bei Gelegenheit der Feier des 75jährigen
Bestehens des Warendorfer Kath. Gesellenvereins sich im Festzuge der
Öffentlichkeit zeigen durften.
Die Zeit, da das Weben und Spinnen noch in hoher Blüte stand,
hat für uns viel Anziehendes und Behagliches. Das empfindet man auch,
wenn man den alten Niehues einen Besuch abstattet. Die Umgebung seines
Anwesens bietet das richtige Bild einer münsterländischen Landschaft.
Die Stille, Heimlichkeit und Abgeschlossenheit passt zu Art der
Beschäftigung des Alten. Der übliche Eichenbestand betreut das kleine
Gehöft. Die Einführung der Dampfmaschine, die die Hausweberei in eine
Zeit des unaufhaltsamen Niederganges brachte, fügte dem Hause Niehues
keinen Schaden zu. Seine Leistungen waren hervorragend. Er zählte eine
Reihe von Pfarrern, so die von Beelen, Füchtorf und Versmold zu seinen
Kunden. Zu nennen sind u.a. von Ketteler, von Korff, von Twickel und von
Nagel. Ungeheure Mengen von Leinenzeug hat Niehues für die Frhrl.
Familie von Nagel geliefert. Manches Fuder wurde nach Ostenfelde
geschafft. Stücke von 108 Ellen Länge sollen keine Seltenheit gewesen
sein. Noch kurz vor dem Kriege haben die Gebr. Niehues den
Bettlakenbestand für Frhrn. von Nagel auffüllen müssen. Allein diese
Lieferung hat man nicht auf einem Bauernwagen fahren können. Die
Adeligen vertrauten Niehues auch die Verfertigung von Gebild-Leinenwaren
an. Auf dem Gebiete der Gebildweberei hat er Hervorragendes geleistet.
Zeugnisse davon geben 30-40 Muster, nach denen die Besteller ihre
Aufträge erteilten. Manches Damast-Tischgedeck zu drei Decken, so
erzählt Niehues ( acht Ellen lang und drei Ellen breit ) und drei
Dutzend Servietten habe er angefertigt. Neben Leinen hat Niehues auch
Bettbarchent und Drell hergestellt. Seine Erzeugnisse scheinen für die
Ewigkeit geschaffen zu sein. Noch jetzt hat er Bettbarchent in Gebrauch,
der bereits 70 Jahre alt ist. Auch der Drell ist unverwüstlich gewesen.
Gegen 80 Ellen konnte er jeden Winter zum Verkauf anbieten, den die
Verbraucher ihm so aus dem Hause holten.
1928 Festumzug des Warendorfer kath.
Gesellenvereins mit Opa Niehues am Webstuhl
Der Vater des alten Niehues war ein Zeitgenosse des alten
Fritz. Geboren 1772 hat er ein Alter von 87 Jahren erreicht. Von ihm ist
noch ein kostbares Andenken erhalten, nämlich graphische Entwürfe für
Leinendamast und ein Lob auf die Zunft der Leinenweber – geschrieben im
Jahr 1810 – desgleichen eine Familienchronik.
Damast-Servietten in Gebildweberei |
Mangel an Rohmaterial
zwang zu Anfang des Krieges die Brüder Niehues, die Weberei aufzugeben.
Der Webstuhl wurde abgebrochen und in die Scheune gestellt. Nach einigen
Jahren, in der Zeit wirtschaftlicher Not, wusste man den Wert ihres
Schaffen wieder zu würdigen. Ein Stuhl wurde aufgebaut. Er hat wieder
manche Elle eisenstarke Ware geliefert. Es wurde wieder das auf
heimischer Scholle gezogene Garn verwendet. Im vorigen Jahr hat Opa
Niehues noch 80 Ellen Leinen für einen Abnehmer in Harsewinkel
angefertigt. Darauf hat er seinen alten Webstuhl anscheinend endgültig
in den Ruhestand versetzt, nicht sich selbst, denn er arbeitet noch
heute im Hause und in der Landwirtschaft und fühlt sich kräftig und
gesund.
Niehues verfügt über ein sehr gutes Gedächtnis. Er erzählt,
dass er schon vor der Schulzeit die hl. Messe gedient habe. Die
Messdienergebete sind ihm noch heute geläufig, wie er auch sonstige
lateinische Gebete noch auswendig kann.
Wir haben schon früher interessante Erzählungen des alten
Niehues „ut ollen Tieden“ gebracht. Einiges sei davon aufgefrischt:
Mit 9 Jahren, so erzählt Niehues, kam ich zur Schule. Mein
erster Lehrer war Lehrer Lacombe. Bei dem blieb ich 1 ½ Jahre. Ich hatte
schon einige Vorbildung, deshalb kam ich gleich in die 2. Klasse. Unsere
Klasse zählte 140 Schüler. Die sogenannte „kleine Schule“ lag auf der
Langen Kesselstraße in Warendorf, dem jetzigen Landratsamt gegenüber.
Das Schulhaus stand an der Stelle, wo jetzt Bäckermeister Vorbohle
wohnt. Anschließend zur Münsterstraße hin lag die evangelische Schule.
Mit 11 Jahren kam ich in die „große Schule“, zu Lehrer Mersmann, der
90-100 Kinder zu unterrichten hatte. Ich konnte gut schreiben, lesen und
rechnen. Krimphove, nachher Pastor in Flensburg, hatte gewöhnlich den
ersten Platz; meistens war ich sein Nachbar.
Die Schule begann morgens um 9 Uhr. Wir lernten Overbergs
großen Katechismus und Overbergs Biblische Geschichten. Damit wurden die
ersten beiden Stunden ausgefüllt. Ein eigentliches Lesebuch hatten wir
nicht; wir lasen aus Overbergs Bibl. Geschichte. In der dritten Stunde
wurde Rechnen betrieben, aus Sökelands Rechenheften. Pastor Brockhage
gab jede Woche eine Stunde Katechismus. Am Tage nach Aschermittwoch
begann der Kommunionunterricht. Gründonnerstag war der Tag der
Erstkommunion. Als Pastor Hessing kam, wurde die Erstkommunion auf
Weißen Sonntag verlegt.
Zu Pastor Brokamps Zeiten wurden im Hochamt nur deutsche Lieder
gesungen. Als dann Pastor Hessing kam, führte er die lateinischen
Gesänge ein, deren erste Leitung Lehrer Forck übernahm. Die lateinischen
Gesänge wurden zuerst auf dem Chore gesungen, erster Chorsänger war Gerd
Rolfes.
Dann erzählte der alte Niehues weiter von seiner eigenen
Familiengeschichte:
Im Jahr 1873 habe ich geheiratet. Da Pastor Jenne in der Alten
Pfarre gestorben war, und weil wegen der Kulturkampfzeiten ein neuer
Pastor nicht alsbald ernannt wurde, so wurde ich in der Neuen Pfarre von
Pastor Hessing getraut. Meine Frau Therese geb. Elfenkemper, stammte aus
Gröblingen. Der liebe Gott schenkte uns zwei Jungen, Hermann und
Bernhard. Bernhard starb jedoch schon im zarten Alter von 1½ Jahren.
Ohne Fleiß kein Preis! Das kann Vatter Niehues auch auf sich
anwenden. Trotz des kargen Verdienstes konnte er bei seiner großen
Sparsamkeit noch manchen Silbergroschen erübrigen. Niehues hat im Laufe
der Jahre für 2700 Taler Land dazugekauft von seinen Nachbarn Bäumer,
Everwand und Twillmann. Außerdem hat er noch zweimal sein Wohnhaus
vergrößert.
Vatter Niehues ist eine echte Westfalennatur, einfach, bieder
und gesund. Wir wundern und staunen, wenn er uns erzählt und versichert,
dass er nicht raucht, nicht priemt und auch nur ganz selten ein
Schnäpschen getrunken hat. „Ja, Vatter Niehues, aber eine Brille
brauchen Sie doch zum Lesen?“ „Eine Brille“, so entgegnet der
Biedermann, „habe ich in meinem ganzen Leben nicht besessen. Einmal, es
mögen wohl schon 40 Jahre her sein, da glaubte ich, die Schrift im
Gebetbuch nicht mehr so gut lesen zu können. Nach dem Hochamt ging ich
zum Uhrmacher Goebeler an der Emsstraße. Der passte mir etliche Brillen
auf, aber durch keine konnte ich besser sehen. Da habe ich ihm die
Brillen gelassen und ich war froh, dass ich keine nötig hatte.
Bis zu seiner Krankheit ging Niehues jeden Sonntag zum Hochamt.
Noch einige Zuge „ut olle Tieden“ weiß der biedere Alte zu
erzählen, die gewiss interessieren dürften:
Manchmal
bin ich zu Fuß nach Münster hin- und zurückgegangen. Einmal, es ist wohl
schon mehr als 60 Jahre her, wollte ich von Warendorf Kleie holen. Es
war aber in der ganzen Stadt keine Kleie zu haben. Da wurde mir bei
Tertiltens Mühle, wo ich zuletzt war, gesagt, in Münster sei noch Kleie
zu bekommen. Obwohl ich auf eine solche Tour auf keine Weise vorbereitet
war – ich hatte Deckelholzschuhe an und es war Wintertag – habe ich mich
sofort auf den Weg gemacht nach Münster. Als der Mühlenbesitzer und sein
Müller gewahr wurden, dass ich von Warendorf kam, da haben sie herzlich
gelacht und mir einen gehörigen Sack voll Kleie auf die Schiebkarre
gepackt. Bei mir haben sich nach dieser „kleinen Tour“ keinerlei Zeichen
von Überanstrengung eingestellt.
Vor etwa 40 Jahren fuhr ich mit einigen meiner Nachbarn nach
Bielefeld zum Markt, natürlich in Holzschuhen. Wegen Ausbruch der Maul-
und Klauenseuche in dortiger Gegend fand der Markt nicht statt. Da es
noch vor Mittag war, traten wir kurz entschlossen den Rückweg zu Fuß an.
Der Weg führte uns über Brackwede, Halle, Versmold und Sassenberg. Da
ich allein Holzschuhe an hatte, neckten mich meine Nachbarn und meinten,
ich würde den Rückweg nicht aushalten. Während mehrere meiner Begleiter
unterwegs die Schuhe auszogen, kam ich am besten nach Hause.
1840 war ein langer und strenger Winter. Nach Karfreitag war es
sehr kalt. In der Nacht zum Ostersonntag setzten Tauwetter und ein
starker Regen ein. Eine gewaltige Flut gab es; bei Sassenberg brach die
Hessel durch und setzte große Flächen Landes unter Wasser. Die
Hagenbecke bei Bauer Bäumker stieg über die Ufer, so hoch, dass nur noch
das Dach des Bienenhauses herausragte. Ebenfalls schwoll die Ems ganz
gewaltig an, und die Fluten stiegen so hoch, dass der erste Bogen der
Emsbrücke bei Brinkhaus Fabrik ganz unter Wasser stand. Das Flutzeichen
hat noch lange an der Brücke gestanden.
Ebenfalls war 1847 ein ganz schlimmes Jahr. Ich ging das letzte
Jahr zur Schule. Der Roggen streute gar nicht, d.h. er brachte fast gar
keinen Ertrag. 70-80 Nichte (eine Nichte=10 Garen) gaben nur einen
Scheffel Korn. Wir hatten nur für 1-2 Monate Brotkorn. Zwei Scheffel
Roggen (etwa 80 Pfund) kosteten 5 Taler. Wir bekamen 2 Scheffel Roggen
von Lippermanns, die kosteten gut 5 Taler, das war ein gewaltig hoher
Preis. Viele Leute hatten nicht satt zu essen. Und der Kartoffelpreis
war auch sehr hoch. 1 Scheffel kostete 1 Taler.
Manche Kinder mussten morgens zur Schule ohne Butterbrot.
Lehrer Mersmann schnitt für Kinder, die noch kein Butterbrot gehabt
hatten, vor der Schulzeit eine Schnitte Schwarzbrot von dem gewöhnlichen
Bauernbrot (30-40 Pfund).
Bei keinem Kornhändler in der Stadt war Roggen zu haben. Da es
noch keine Eisenbahn gab, ließ der Jude Reinberg auf der Oststraße per
Fuhre Roggen von Bremen kommen. Das war Anfang Juli 1848. Dadurch schlug
der Roggen in einer Woche 18 Taler ab. Das folgende Jahr war so gut,
dass der Malter Roggen nur 6 Taler kostete.
Möge Gott „Opa Niehues“ das 100. Lebensjahr in Gesundheit und
Frische vollenden lassen. Die alten Leute gehören zur Heimat wie die
Kirche und die Schule und die Eichen auf den Gehöften. Sie bauen Brücken
von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft. Möge die Liebe
und die Erfurcht vor ihnen nicht erlöschen, damit unser Volk wieder
gesund, stark und kräftig werde und fest verankert in der Tradition sich
ein neues Haus und eine neue Zukunft baue.
Heinrich Niehues war der letzte selbständige Hausweber in
Warendorf. Er war der Sohn des Kötters Johann Heinrich Niehaus
(1772-1858) in Gröblingen, von dem er und sein Bruder Hermann
(1836-1918) die Gebildweberei gelernt hatten. Auf seinem Webstuhl webte
er jedem Winter ca. 800 Ellen (540m) Drell und Bettbarchent in sehr
unverwüstlicher Qualität. Seine Kunden holten die fertige Ware bei ihm
auf dem Hof ab.
Quelle:
Bericht zu Opa Niehues 100. Geburtstag im „Neuen Emsboten“ vom
8. 3.1932
Verfasser: Lehrer Eduard Göcke
Bild: Elly Grützner: Der letzte Warendorfer Leineweber
Privatbesitz
Heinrich Blum, von allen "Mister Blum" genannt
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Zumloh, der Begründer des Josephshospitals
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Dr. Maria
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Josef Pelster,
der Schulrat und Naturfreund
Wilhelm
Diederich, Bürgermeister von 1869-1904
Hugo
Ewringmann, Bürgermeister von 1904-1924
Theodor
Lepper, Stadtrendant und Retter in den letzten Kriegstagen
Clara Schmidt,
Kämpferin für die Frauenliste im Stadtparlament
Elisabeth
Schwerbrock, eine hochengagierte Stadtverordnete,
Eugenie
Haunhorst, die Kämpferin für ihre Heimatstadt
Paul Spiegel,
Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland
Paul
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Heinrich
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Theo
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