Marshall Ill. 12 May 1893
Lieber Bruder und Schwägerin!
Endlich
nach langen 15 Jahren hast Du mal wieder von Dir hören lassen. Du hast
jetzt auch schon viel durchgemacht, wenn Du 7 Kinder mit Deiner Frau
gehabt und schon 4 davon verloren. Es freut uns sehr, daß es Dir jetzt
gut geht und Dich so empor gearbeitet hast.
Sonntag war Bruder Heinrich bei uns und hat Deinen Brief
gebracht. Da haben wir natürlich viel von der Heimat und von alten
Zeiten gesprochen. Er wohnt nicht weit von uns und da besuchen wir uns
fleißig. Es geht ihm auch gut, und er hat auch eine kleine Farm die er
selbst bestellen thut. Auch hat er schon 3 Kinder gehabt, 2 Buben und 1
Mädchen, wovon 2 gestorben. Jetzt hat er noch einen Jungen, der ist
jetzt 6 Jahre, und ein tüchtiger Kerl.
Schwester Trute wohnt noch in Clinton und hat sich diesen
Winter verheirathet, einen feinen gebildeten Mann von 55 Jahren. Sie
kommen diesen Sommer hier zum Besuch reisen dann nach Chickago zur
Weltausstellung. Ihre 2 Kinder sind alle Beide verheiratet und haben
gute tüchtige Männer.
Schwester Anna ist auch verheiratet, und hat einen guten Mann,
und einen Buben von 7 Jahren. Sie wohnen nicht weit von Clinton.
Schwester Clara ist in einer Irrenanstalt und unheilbar, schon
seit 10 Jahren. Sie hat ein Mädchen hinterlassen, welches ihr Mann gut
erziehen läßt und ein tüchtiges Mädchen ist.
Und jetzt willst Du auch etwas von uns hören, wie es uns in der
langen Zeit ergangen ist! Ich habe auch 6 Kinder gehabt, 3 Buben und 3
Mädchen, wovon 3 gestorben. Jetzt habe ich noch 2 Mädchen und einen
Buben.
Die älteste Paula ist jetzt 15 Jahre und ist schon um eine
Kopflänge größer als ich.
Die zweite Clara ist 10 Jahre, und Alfred der Junge ist 6
Jahre.
Wir haben 2 Pferde und fahren die Woche 2 bis 3 mal zur Stadt,
mit Gartensachen. Unser Land haben wir immer noch verpachtet und ziehen
blos Beeren-Obst, Erdbeeren, Himmbeeren, Brommelbeeren u.s.w. Mein Mann
ist nicht recht stark und kräftig, da kann er nicht so schaffen, wie es
sich auf einer Farm gehört.
Auch thun wir Wein machen und da haben wir Alle Arbeit mit die
Weintrauben. Da können wir aber auch Wein trinken. Wenn Du nicht so weit
wohnen thätest, dann könnten wir Dich immer ein Fäßchen schicken.
Wenn Du immer verreisen mußt, dann könntest Du auch Deine Reise
einwenig verlängern und uns mal besuchen. Wir wären schon längst mal
gern nach Deutschland gekommen, aber wenn man so ein Besitzthum hat,
dann kann man nicht mehr wie man gerne möchte. Denn das Gut das haben
nicht wir, nein es hat uns, und hält uns fest, wenn auch nicht mit
unlöslichen Banden, so doch mit schwer zu lösenden Fesseln.
Wenn wir die nächste Zeit alle zur Stadt fahren, dann lassen
wir ein Familienbild machen und schicken Dir eins. Nächstens schicke das
Deine, wenn Du es doch schon fertig hast, damit ich Deine Frau und Deine
Kinder kennen lerne. Schreibe auch gleich wieder, und recht viel Neues,
denn in den langen Jahren ist doch gar manches verändert in der Heimat.
Wenn ich jetzt nach dort käme würde ich mich sicher nicht mehr auskennen
und fremd und verlassen würde ich mich vorkommen.
Und nun verehrte Frau Schwägerin auch einige Worte zu Ihnen!
Es war sich nicht schön von uns, daß wir Ihnen noch nicht
einmal geschrieben. Aber ich hoffe wir werden jetzt das Versäumte
nachholen und gute Freunde werden. Es hat uns sehr gefreut, daß Sie und
Ihr kleines Söhnchen ein paar Zeilen mit beigelegt haben. Unseren
herzlichen Dank dafür. Aber das nächste Mal müssen Sie einen ganz langen
Brief schreiben, damit wir uns näher kennen lernen. Teilen Sie uns auch
mit, was Sie alles betreiben, ob auch noch etwas Landwirtschaft
betrieben wird in Freckenhorst.
Meine liebe Mutter hat immer so hart arbeiten müßen, und es
thut mir immer noch leid, daß ich nicht mehr für sie gethan habe.
Hoffentlich haben Sie es leichter, welches mich sehr freuen würde.
Also bitte schreiben Sie bald! Viele herzliche Grüße von Mann
und Kindern und ganz besonders von Deiner liebenden Schwester und
Schwägerin
Anna Seidel
Weiterer Brief von Anna Seidel aus Illinois 1893
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