Die Auswanderung der Geschwister Kreimer - der letzte Ausweg für die verarmten Handweber
von Mechtild Wolff

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stagnierte der Leinwand- und Baumseidenhandel, die Konkurrenz aus England wurde zu groß. Konnten die Weber bislang ihre Familien mit den Leinenprodukten ernähren, so wurden sie jetzt Tagelöhner, oft auch Bettler.

1830 hatte Warendorf 4000 Einwohner, davon mussten 1100 von der Armenkasse unterstützt werden. In vielen Tagelöhner Familien reichte das Geld nicht für das tägliche Brot. In der Stadt Warendorf wurde die Not gemildert durch Wohltäter, wie Franz Joseph Zumloh oder Anna Lüninghaus, die überall halfen, wo Not und Elend zu groß wurden. Ab 1810 gab es auch im Raum Warendorf eine große Auswanderungswelle. Viele Geistliche gingen in die Missionen nach Südamerika, China, Indien und Afrika oder in die deutschen Ansiedlungen in Nordamerika. Der Höhepunkt der Auswanderungswelle war um 1860. Auch viele Handweber suchten in der neuen Welt ihr Glück. Einige haben es gefunden, andere kamen nach Jahren bitter enttäuscht zurück.

In ländlichen Gemeinden war die Not noch größer als in den Städten, denn die Möglichkeiten zum Geld verdienen waren auf dem Lande sehr begrenzt. Viele Familien wussten nicht mehr, wie sie ihre vielen Kinder ernähren sollten. So erging es auch dem Weber und Kaufmann Johann Heinrich Kreimer (1810-1873) aus Freckenhorst und seiner Frau Anna Elisabeth geb. Niehues (1810-1879). Seit Generationen ernährte die Handweberei und die Verleger-Tätigkeit die Familie. 1864 wurden die Erträge aus der Handweberei aber so schlecht, dass alle Kinder sich entschlossen, die Heimat zu verlassen, um ihr Glück in Amerika zu suchen.

Auch in Freckenhorst waren Auswanderungsagenten gewesen, die den darbenden Bürgern die Chancen in der neuen Welt schmackhaft gemacht hatten. In Illinois zum Beispiel wurden fleißige junge Leute gesucht, die das Prärieland beackern und zu Farmland machen sollten. Das Bureau of Land Management organisierte die Landverteilung, so, wie es der Land Owners Act vorschrieb: Das zukünftige Ackerland war in Claims von einer Viertel Quadratmeile, ca. 70 ha,  aufgeteilt worden. Jeder Siedler erhielt eine Fahne, die er in das Stück Land steckte, das er sich auswählte. Dieses Landstück bekam er kostenlos zur Verfügung gestellt. Wenn der Siedler nach fünf Jahren zeigen konnte, dass er das Prärieland zu Farmland gemacht hatte, ging diese kleine Farm in seinen Besitz über.

 

 

Für die Anfangskosten zum Bau einer Hütte zum Wohnen, zur Anschaffung von Ackergeräten und Vieh stellte der Staat billige Kredite zur Verfügung. Das war eine echte Chance und die wollten die Geschwister Kreimer ergreifen.

Für die Überfahrt boten sich die bequemen Dampfschiffe an, aber die Freckenhorster Auswanderer entschieden sich für ein Segelschiff, das war wesentlich billiger. Alles Ersparte wurde zusammengekratzt, die fertig gewebten Leinenballen wurden verkauft und vielleicht wurde auch noch Land verkauft, um die Überfahrt zu bezahlen. Schweren Herzens spannte Johann Heinrich Kreimer Pferd und Wagen an, um seine sechs Kinder nach Bremerhaven zu bringen.

Johann Theodor     (17.5.1840)  24 Jahre alt,  

Johannes Henrikus (1843-1920) 21 Jahre alt,   (später Henry)

Anna                      (1846-1926) 18 Jahre,                   

Gertrud                 (13.1.1849-1922) 15 Jahre,         

Josef                    (14.2.1852-20.4.1934) 12 Jahre und

Clara                     (16.2.1853) erst 11 Jahre alt.                   

Vielleicht fuhren sie mit der hölzernen Bark „COLUMBIA“, die 1862  gebaut wurde und 1882 spurlos mit allen Passagieren verschwand. Sie war eines der letzten großen Segelschiffe und holte Baumwolle aus den USA nach Europa. Der Transport von Auswanderern in die USA bot den Reedern eine lukrative Alternative zum nutzlosen Ballast, der ansonsten für die Hinfahrt hätte geladen werden müssen.

Für die Unterbringung der Auswanderer wurden die Frachträume in Verschläge unterteilt und mit Bettgestellen aus-gestattet. Im Zwischen-deck konnten ca. 156 Auswanderer untergebracht werden. Im Achtern Deck gab es Platz für 70 Passagiere der II. Klasse und vier Passagiere der I. Klasse.

Die Geschwister Kreimer brachten ihre Habe, die sie in großen Holzkisten verstaut hatten, ins Zwischendeck. Als Abschied genommen werden sollte, wurde ihnen klar, dass ja niemand zu Hause sein würde, um später für die alten Eltern zu sorgen. Das hatten sie in ihrer Euphorie gar nicht bedacht. Josef, mit seinen 12 Jahren der jüngste der Söhne, musste wieder von Bord gehen und tief enttäuscht mit seinem Vater nach Freckenhorst zurück fahren. Sehr zur Freude seiner Mutter Anna Elisabeth, die nun wenigstens ein Kind zu Hause hatte.

Die Freckenhorster Auswanderer überstanden die zuweilen recht stürmische Überfahrt gut, nicht zuletzt wegen der reichhaltigen Lebensmittelvorräte, zu denen Freunde und Nachbarn beigesteuert hatten. Sie landeten in Ellis Island, New York und wurden dort registriert und machten sich auf den beschwerlichen Weg nach Illinois. In Clinton, Massachusetts wurden gute Weber gesucht. Darum entschlossen sich einige der Kreimer Geschwister in Clinton zu bleiben, denn die Verdienstmöglichkeiten waren gut. Nur Henry zog weiter und siedelte bei Marshall in Illinois. Die deutschen Einwanderer bildeten enge Gemeinschaften, halfen sich gegenseitig und heirateten untereinander. So auch Anna, die den deutschen Auswanderer Franz Seidel heiratete. 1875 folgte das junge Paar Annas Bruder Henry nach Marshall und kauften dort eine Farm. Anna war eine eifrige Briefeschreiberin und seit 1893 sind zahlreiche Briefe von Anna Seidel an ihren Bruder Josef Kreimer in Freckenhorst erhalten. Ihr fließen seitenlange Briefe in Reimen aus der Feder, in denen sie sehr lebendig vom Pionierleben erzählt. Sie bat ihren Bruder Josef immer wieder, doch mit seiner Frau Anna zu einem Besuch nach Amerika zu kommen. Dieser Wunsch ging aber nicht in Erfüllung. Auch ihr sehnlicher Wunsch, Freckenhorst einmal wiederzusehen, blieb unerfüllt.

Die Nachkommen der Geschwister Kreimer leben heute noch als wohlhabende Farmer in Marshall/Illinois. Sie sind angesehene Familien in dieser ca. 8000 Einwohner zählenden Gemeinde und engagieren sich politisch, kirchlich und gesellschaftlich.

Der nach Freckenhorst zurückgekehrte Josef Kreimer blieb Handweber und Verleger und spezialisierte sich auf das Weben von Plüsch. 1906 eröffnete er mit der Firma „Josef Kreimer“ eine der ersten mechanischen Plüsch-Webereien in Freckenhorst. Sein Sohn Theodor gründete 1913 die Firma „Theodor Kreimer“, die viele Jahre lang der größte Arbeitgeber in Freckenhorst war und eine der bedeutendsten Velourwebereien Europas wurde.


Familie Kreimer 1924
 sitzend: Anna Kreimer, Josef Kreimer, Elisabeth Kreimer,
stehend: Bernhard Kreimer, Gertrud und Hans Kreimer, Theodor Kreimer, Änny Kreimer

 

Auch Theodor Kreimer reiste nie nach Amerika. Seine Frau Elisabeth führte aber einen regen Briefwechsel mit Anna Seidel und später mit deren Tochter Paula (Polly). Sie weigerte sich aber energisch in die USA zu fahren, „denn dort wohnen die Menschen ja in Baracken“. Damit meinte sie die Holzhäuser der Amerikaner. In Deutschland konnte man sich nicht vorstellen, dass diese Häuser schon damals eine wesentlich höhere Wohnqualität hatten als vergleichbare deutsche Häuser.

Erst in den 1950er Jahren kam es zu einem Wiedersehen mit der amerikanischen Verwandtschaft. Jimmy, der Ur-Ur-Enkel von Anna, war als Soldat in Bremerhaven stationiert. Er machte sich auf den Weg nach Freckenhorst, um die Heimat seiner Vorfahren zu besuchen und den deutschen Familienzweig der Kreimers kennen zu lernen. Jimmy wurde sehr herzlich aufgenommen und fühlte sich hier so wohl, dass er an seinen freien Wochenenden oft und gern nach Freckenhorst kam.

1962 fuhren Änny und Hubert Wolff in die USA und besuchten die Nachfahren der Auswanderer in Marshall. Sie wurden dort mit großer Herzlichkeit empfangen und lernten die amerikanische Großfamilie kennen und lieben.


v.l. Hubert Wolff, Caroline (dahinter), Hans Kreimer (Theodor Kreimers Bruder), Bernfried, Ruby, Else Wolff, Elisabeth Kreimer, Bua, Änny Wolff, Theo Eimer, Heinz Wolff

 

1963 kamen Ruby und Caroline zur Feier des 50jährigen Jubiläums der Firma Kreimer nach Freckenhorst. In der Zwischenzeit sind viele amerikanische Verwandte in Freckenhorst gewesen und der deutsche Familienzweig freut sich bei den munteren Familientreffen in Marshall/Illinois über die herzliche Aufnahme bei den sehr zahlreichen Nachfahren der Einwanderer von 1864.

 

Mechtild Wolff

 

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