Am 21. Juni 1972 beschloss der Rat der Stadt Warendorf mit
großer Mehrheit, die seit einiger Zeit im Besitz der Stadt befindliche
ehemalige Villa des Textilfabrikanten Wiemann an der Sassenberger
Straße, das heute unter dem Namen Sophienstift bekannte Gebäude,
abreißen zu lassen. Mit diesem Beschluss zugleich wurde die breite
Öffentlichkeit zum ersten Male mit der Frage nach Erhaltung oder
Beseitigung eines Gebäudes konfrontiert, dessen Schicksal von vielen
exemplarisch in den Zusammenhang mit den Problemen der Stadtsanierung
überhaupt gestellt wird.
Das Echo in der Öffentlichkeit auf die Bekanntgabe dieses
Beschlusses war sehr lebhaft und durchweg eindeutig auf die Erhaltung
des Hauses gestimmt. Es reichte von Einlassungen der Kreisheimatpflege
über ausdrücklich positive Stellungnahmen des Landesdenkmalamtes und
zahlreiche Kommentare und Diskussionsbeiträge in der Presse bis zum fast
einstimmigen Votum in der Generalversammlung des Heimatvereins am 8.
Januar 1973. Das wichtigste
Ergebnis all dieser
Aktivitäten war eine Vereinbarung zwischen Stadtverwaltung und
Landesdenkmalspflege, den Abbruch um eineinhalb Jahre hinauszuschieben
und in dieser Zeit nach Rettungsmöglichkeiten für dieses Gebäude zu
suchen.
Die vorliegende Darstellung versucht, das vielfach unscharfe
und unklare Bild von diesem Haus und seiner Geschichte in einigen
Punkten zu ergänzen und deutlicher zu machen, soweit das bei dem bis
jetzt aufgefundenen äußerst dürftigen Quellenmaterial möglich ist. Dabei
besaß die Villa bei allen heute an der Diskussion Beteiligten bis zum
Juni 1972 so gut wie kein Image; sie stand seit fast siebzig Jahren in
der Abgeschiedenheit und Stille seiner Bewohner außerhalb jeder
Erörterung, ja jeden Interesses. Rat und Bauausschuss wurden deshalb von
der Reaktion auf ihren Beschluss nicht minder überrascht als das
Landesdenkmalamt vom hier gemachten Fund eines völlig intakten und
ungestörten Environments des späten Klassizismus (siehe Dr. F. Mühlen
in: Westfalenspiegel 4/73). Dass hier Innen- und Außenbau ungestört
erhalten bleiben konnten, ist einem Zufall zu verdanken, der umso höher
einzuschätzen ist, als weitaus die meisten Bauwerke aus dem Ende des 19.
Jh., speziell die Wohnhäuser, Um- und Durchbauten erdulden mussten. In
wieviel Fällen besteht die historische Substanz nicht lediglich aus der
Fassade!
Inzwischen denkt man über den Historismus des vorigen
Jahrhunderts weniger arrogant als noch vor zehn Jahren (siehe F. Notter,
Zürich, in: Westf. Heimatbund, Rundschreiben 9/73). Dieser
Erkenntnisprozess wird nicht überall mit Leichtigkeit vollzogen; noch
schwieriger scheint es, Konsequenzen daraus zu ziehen. Auf der anderen
Seite wird diese Einsicht von der kritischen Würdigung heutiger Baukunst
und von der wachsenden Erkenntnis kunstgeschichtlicher Entwicklungen
gefördert. Sie schlägt in der Nostalgie-Welle unserer Tage in die
kurzschrittige Gleichung „alt gleich gut" um, von der ein Teil unserer
Möbelindustrie heftig profitiert. Kritische Würdigung des Alten hat aber
mit Nostalgie so wenig zu tun wie Geographie mit Massentourismus.
Von der Geschichte der Villa Sophia ist, wie gesagt, wenig
bekannt. Am 18. Mai 1870 stellte der Fabrikant Eduard Wiemann, seit 1847
Gesellschafter der mechanischen Weberei Brinkhaus & Wiemann und seit
1851 durch Heirat mit Sophie, geb. Ostermann, mit der Familie Brinkhaus
verschwägert, einen Bauantrag zur Errichtung eines Wohnhauses auf dem
ihm zugehörigen Garten an der Sassenberger Straße. Der Rat fand gegen
den Antrag in seiner Sitzung vom 24. Mai 1870 „nichts zu erinnern", so
dass dieser samt Bauzeichnung durch den Bürgermeister Diedrich an den
Landrat Freiherrn von Wrede am 2. Juni weiter gereicht werden konnte.
Die Genehmigung erfolgte am 4. Juni 1470 unter Hinweis auf
Gesetzesvorschriften, den Abstand von der Straße und die Gestaltung der
Einfahrt betreffend (Staatsarchiv Münster, Landratsamt Warendorf Nr.
730).
Die eigentliche Bauzeit, der ursprüngliche Plan und auch der
Architekt sowie die am Bau beteiligten Handwerker konnten bisher nicht
ermittelt werden. Möglicherweise wurde das Haus von der Fa. Th. Carlé
erbaut, die seit 1811 existiert.
Die Villa Sophia, so heißt es, wurde bald zu einem
gesellschaftlichen Mittelpunkt
der
Stadt und des Kreises. Der westfälische Landadel soll hier aus- und
eingegangen sein.
Das ist nicht weiter verwunderlich, gehörten doch Eduard
Wiemann und Hermann Joseph Brinkhaus zu den führenden Persönlichkeiten
der Stadt, die sich nicht nur für die Industrieansiedlung, sondern auch
für eine verbesserte Verkehrsanbindung durch eine Bahnlinie
Hamm-Warendorf-Osnabrück und für eine zentrale Energieversorgung durch
Gas einsetzten. Der Aufbruch in das Industriezeitalter wurde für
Warendorf durch diese beiden Fabrikanten vollzogen (siehe: Vom Werden
und Wachsen der Brinkhaus Inlettwebereien, Warendorf 1951).
Leider blieb die Ehe der Wiemanns kinderlos. Das hatte zwei
Folgen: Erstens trennte sich Hermann Joseph Brinkhaus 1879 geschäftlich
von seinem Teilhaber und Schwager Eduard Wiemann und zweitens bestimmten
die Eheleute Wiemann in ihrem Testament vom 22. Januar 1892, „dass ihr
gesamter gemeinschaftlicher Nachlass, insbesondere ihre große schöne
Hausbesitzung vor dem Emstore, nach dem Tode des Längstlebenden an die
Genossenschaft (der Klemensschwestern) fallen sollte. Die Stiftung
sollte den besonderen Namen „Sophienstiftung“ führen und getrennt von
dem sonstigen Vermögen der Genossenschaft verwaltet werden. Zweck der
Stiftung sollte sein, die Besitzung als Pflegestätte für kranke,
invalide und altersschwache Schwestern der Genossenschaft einzurichten
und zu unterhalten. Der Stifter starb am 16. Juni 1898, die Stifterin am
30. April 1903. Alsbald nach ihrem Tode bezogen die Schwestern die
Besitzung und schufen sie unter dem Namen „Sophienstift“ gemäß den
testamentarischen Bestimmungen zu einer für ihre Zwecke geeigneten
Pflegestätte um. Mit bischöflicher Genehmigung errichteten sie in dem
Hause eine Kapelle" (W. Zuhorn in: Kirchengeschichte der Stadt
Warendorf, Bd. II, S. 190 f.).
Außer mancherlei technischen Verbesserungen bis hin zur
Umstellung der Zentralheizung auf Öl im Jahre 1962, einer Erweiterung im
Jahre 1924 (s. u.) und einigen Umbauten am benachbarten
Wirtschaftsgebäude blieb der ursprüngliche bauliche Bestand bis hin zu
Details außen wie innen von den Schwestern unangetastet, siebzig Jahre
lang. Als die Zahl der Bewohnerinnen in den sechziger Jahren so stark
abgenommen hatte, dass die Genossenschaft das Haus nicht länger halten
zu können glaubte, verkaufte sie 1971 das gesamte Besitztum an die Stadt
Warendorf, wobei der Wert des Gebäudes - weil es inzwischen voll
abgeschrieben war - mit Null Mark veranschlagt wurde. Man fasste alsbald
den Plan, das gesamte Gelände in die Freizeitmaßnahmen am künftigen
Emssee einzubeziehen.
Der Grundriss des Sophienstiftes nach dem Aufmaß des
Landesdenkmalamtes zeigt deutlich zwei Teile (Bild 2):
den Hauptwohnteil mit fast sechzehn Meter breiter Front bei
einer Tiefe von 13,52 m, klar gegliedert in Vestibül, Treppenhaus und
vier Räume zwischen 44,1 qm (Raum 5) und 23,4 qm (Raum 3), und -
westlich angesetzt - um ein Viertel schmaler, den in der Front 12,3 m
breiten Wirtschaftsteil, mit zahlreichen Abstell- und Vorratsräumen
klein gekammert. In diesen Teil ist ein eng mit dem Hauptteil
verbundener Raum eingelagert (Raum 4), der in der Front durch einen
flach rechteckigen Ausbau hervorgehoben wird. Dieser Trakt ist nach Art
des Ausbaus und Verbindung mit dem Hauptteil entgegen anderslautenden
Vermutungen genauso alt wie der Kernbau (s. u.). Als Pendant zu dieser
westlichen Erweiterung mag der zu Raum 2 gehörige achteckige Ausbau
angesehen werden, der als zusätzliche Seitenbelichtung für den tiefsten
Raum des Erdgeschosses notwendig erschien; das gleiche gilt für den Raum
darüber, in dem eine verglaste Tür das Dach des Erkers erschließt. Den
Erker gestalteten die Klemensschwestern bald nach Übernahme des Hauses
zum Altarraum für ihre Hauskapelle aus, während das östliche Drittel von
Raum 5 als Sakristei diente.
Das Haus wendet der Straße eine geschlossene Fassade von neun
Fensterachsen zu (Bild 1), die auf den ersten Blick einen vollkommen
geschlossenen quaderförmigen Baukörper erwarten lassen. Aber schon
Anordnung und Ausbildung der Fenster gestatten eine Gruppierung in
Bauabschnitte. Da sind die fünf linken Achsen, auf ein leicht
vorspringendes Mittelrisalit bezogen, es folgt nach rechts (als sechste
Achse also) ein flach-rechteckig vorspringender Erker mit dreigeteiltem
Fenster, dann drei merklich enger gestellte Fensterachsen, die mit dem
Erker eine Einheit zu bilden scheinen.
Die Rückseite des Gebäudes macht die Vermutung zur Gewissheit:
Hier sieht man deutlich den fünfachsigen Kernbau (Bild 4), in der
Fassade ein getreues Gegenstück der Straßenfront, dann, durch einen tief
zurückspringenden Lichtschacht getrennt, einen Bauabschnitt, der im
Unterschied zum zugehörigen Abschnitt der Frontfassade nur zwei
Fensterachsen besitzt (Bild 3). Tatsächlich war der letztere Teil des
Hauses ursprünglich eingeschossig, sein Obergeschoß wurde dem Bau erst
gut fünfzig Jahre später — 1924 — hinzugefügt, um der Genossenschaft die
Möglichkeit zur Aufnahme weiterer erholungsbedürftiger Schwestern zu
geben. An der Straßenfront verrät nur eine Gehrungsfuge im Dachgesims
etwas von dieser Erweiterung. Ansonsten ist der Aufbau bis ins Detail
dem Vorhandenen angepasst. Die Rückseite dagegen hat durch den Anbau und
darüber hinaus durch eine diesem vorgesetzte zweistöckige Liegehalle
viel von ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild
verloren.
Im Übrigen treten am Kernbau und an der Straßenfront nur drei Bauteile
aus dem geschlossenen Quader hervor: der rechteckige Erker auf der
Nordseite im Anschluss an den Kernbau, ein polygoner Erker mit
Fünfachtel-Grundriss an der Ostseite sowie eine Veranda vor der gesamten
Länge der Gartenseite des Kernbaues in Verbindung mit einem auf
korinthische Säulen gestützten Altan vor dem Mittelrisalit.
Der gesamte plastische Schmuck des Hauses ist sorgfältig,
jedoch zurückhaltend vor allem zur optischen Gliederung des Baukörpers
eingesetzt. Die stilistische Herkunft einzelner Motive zu bestimmen, ist
bei einem historistischen Gebäude nicht ganz einfach, hier scheinen sie
jedoch durchweg aus dem Formenschatz der florentinischen Renaissance zu
stammen, wenn auch ihre Unaufdringlichkeit dem Haus eine klassizistische
Strenge gibt. Senkrechte und waagerechte Linien beziehen sich
aufeinander und bestimmen die ganze Fassade. Da ist das den ganzen Bau
umlaufende Gurtgesims, das die Rustika-Stuckatur des Erdgeschosses vom
glatt geputzten Obergeschoß trennt, das Band des Mezzanin-Geschosses
unter dem großen Dachgesims als ununterbrochene waagerechte Linien,
ergänzt durch die geraden Fensterstürze und Sohlbänke, die nicht
aneinander gekettet, jedoch aufeinander bezogen sind. Fensterachsen und
-leibungen, Blendrahmen und Fensterkreuze, Mittel- und Eckrisalite sowie
nicht zuletzt die mit deutlicher Beziehung zu den Fensterachsen unter
dem Dachgesims aufgereihten Konsolen gliedern die Fassaden in der
Vertikalen. Man ist sogar so weit gegangen, die Fensterumrahmungen durch
ganz flache Lisenen auf die darunter befindlichen Simse zu stellen;
damit ist dann ihre Position in der Fassade eindeutig fixiert. Selbst
das Dach ist so flach gehalten, dass es optisch überhaupt nicht in
Erscheinung tritt; für den Betrachter bildet das Kranzgesims den oberen
Abschluss.
Bild 3 Front vor 1924 (Archiv)
Bild 4 Gartenseite (A. Kaup, Wdf.)
Bild 5 Eingang (A. Kaup, Wdf.)
Die Strenge der vertikalen und horizontalen Linien wird nur an
wenigen Stellen verlassen: im Dreiecksgiebelchen im vorderen
Mittelrisalit, im Rundbogenfenster an der Rückseite des Anbaus, dem
daneben befindlichen (leeren) Epitaph, dem reich umrankten (ebenfalls
leeren) Wappenrelief vor der niedrigen Balustrade des Vordererkers, in
zwei kreisrunden Kopfmedaillons an der Westfassade des Kernbaus (ein
männlicher und ein weiblicher Kopf; der männliche ist durch die
nachträgliche Aufstockung ins Innere geraten). Vollplastischer
figürlicher Schmuck tritt nur an der Vorderseite auf, und zwar in
Gestalt von vier Allegorien auf Freitreppe und Erker (Bild 5) aus der
Kollektion der Fa. E. March Söhne, „Charlottenburg bei Berlin"
(Prägestempel auf den Sockeln). Die Treppenfiguren sind knapp lebensgroß
und stehen, ihren Attributen nach zu vermuten, für Kunst (Lyra und
Rolle) und Wissenschaft (aufgeschlagenes Buch). Die Erkerfiguren sind
etwa 130 cm hoch und versinnbildlichen Fleiß (Amboss und Zahnrad:
Industria) und Sparsamkeit (der festgehaltene Geldbeutel). Alle Figuren
sind griechisch gewandet und mit Lorbeer bekränzt.[2]
Die Aufgänge der Freitreppe werden durch Kugelsäulen flankiert,
die ursprünglich Amphoren, bis vor kurzem niedrige Schalen trugen. Das
überreiche Rankenwerk des Treppengeländers fällt durch sein Material,
Schmiedeeisen, etwas aus dem Rahmen. Das hier benutzte Motiv wiederholt
sich in den Kellerfenstern.
Das Material des Außenbaus ist Putz und Stuck, durchweg weiß
gestrichen, insgesamt nicht allzu wertvoll, wollte man es mit
Steinmetzarbeiten vergleichen. Darüber hinaus ist vieles nach gängigen
Vorbildern, Lehren und Schablonen gearbeitet. Davon blieben aber die
architektonische Leistung der Gliederung und Proportionierung und die
handwerkliche Leistung der Stuckatierung unberührt. Es hat zur Bauzeit
des Hauses und auch später in Warendorf Kolonnen von vorwiegend
italienischen Stuckateuren gegeben, die hohes Geschick besaßen (mündl.
Information
Fa.
Carlé). Aus der Bauzeit (1870-71) und der Gestaltung geht hervor, dass
die Villa Sophia nicht der eigentlichen Gründerzeit mit ihrer
überschwänglichen und pathetischen Bauzier, sondern dem wesentlich
harmonischeren und verhaltenen späten Klassizismus zuzurechnen ist.
Im Jahre 1973 über das Innere des Sophienstiftes zu schreiben,
ist einigermaßen schwierig, weil vieles während des letzten Jahres
verfallen, demoliert, zerstört oder herausgeholt wurde. Der
ursprüngliche Zustand, so wie er noch im Juni 1972 anzutreffen war, ist
daher nur noch zu rekonstruieren. Aber auch diese Rekonstruktion bietet
noch manche Überraschung, vor allem, weil in den siebzig Jahren seit der
Stiftung und der Übernahme durch die Schwestern nichts an der Substanz
des Innenbaus verändert wurde. Zwar haben sich die Bewohner häuslich
eingerichtet, es wurden Leitungen verlegt und Heizung eingebaut, es
wurde eine Kapelle mit Sakristei eingerichtet, zahlreiche Schlafräume
wurden geschaffen, aber bei allen diesen Veränderungen ließen eigene
Bescheidenheit und Respekt vor dem Stifter die kleinste Volute, das
geringste Ornament unangetastet. So findet - oder fand - man hier in
seltenster Vollständigkeit ein von den Bedürfnissen und Errungenschaften
des 20. Jhdt. völlig unberührtes Gestaltungs- und Raumkonzept.
Bild 6 Gartensaal, Juni 1972
(LDA Münster)
Das Innere kann nur in großen Zügen beschrieben werden, weil
einfach der Raum fehlt, jedes Detail einzeln zu erfassen.
Wenn sich die Villa von außen einigermaßen schlicht und
zurückhaltend darbietet, so entwickelt sie im Innern eine
vergleichsweise üppige Pracht. Die Stilskala der zahlreichen Stuckdecken
reicht vom geometrisch strengen Empire bis zum verspielten Rokoko; stets
wird im Schnittpunkt der Symmetrieachsen eine Lüsterrosette angebracht,
jedoch keine Rosette, keine Decke überhaupt gleicht der andern. Den
Höhepunkt der Deckengestaltung bildet zweifellos das allegorische,
heiter verspielte Deckengemälde im Gartensaal des Erdgeschosses (Raum
5). Im Grundriss weisen schon die abgerundeten Ecken auf eine besondere
Gestaltung dieses Raumes hin. Tatsächlich scheint dieser Saal mit seinen
durch Rokoko-Bandelwerk gegliederten Wänden und seiner reichen Decke
einem Schlösschen des 18. Jhdt. zu entstammen (Bild 6). Diese Wandzier
dient in erster Linie dazu, die Proportionen des Raumes sinnfällig zu
machen; die Gliederung durch die Fensternischen wird auf den
gegenüberliegenden Wänden beantwortet. Der Grundton dieses Raumes ist
weiß, im Bandelwerk und an der Lüsterrosette durch einige goldfarbig
abgesetzte Ranken und Profilstäbe gehöht. Im Zusammenhang mit dem
farbigen, ovalen Deckengemälde und den aufgelegten Ranken in den Feldern
der beiden Flügeltüren ergibt sich ein heiter festliches Ensemble. Somit
steht der Saal in einem reizvollen Kontrast zum Vestibül, das, nicht
minder prachtvoll ausgestattet, einen ernsteren und repräsentativeren
Charakter besitzt (Bild 7). Dazu tragen die korinthischen Doppelpilaster
mit marmoriert bemalten Blendfeldern beiderseits der Flügeltüren ebenso
bei wie die mächtigen Kartuschen über den Türstürzen und die strengen,
rechteckig aufgelegten Wandfelder. Zwei dieser Wandfelder beiderseits
des Eingangs tragen auf leicht marmoriertem Grund stärker reliefierte
Jagdgehänge, links vor dem Eingang mit Bockskopf, Wildente, Fasan,
Flinte, Pulverflasche, Horn, Hirschfänger und Jagdtasche, rechts mit
Keilerkopf, Hase, Schnepfen, Pulverhorn, Tasche, Eichenlaub, gekreuzten
Flinten und Hörnern. Die Reliefs sind, soweit an Haarrissen auf dem
Untergrund erkennbar, als ganze Platten in die Wand eingesetzt. Das dem
Treppenhaus gegenüberliegende Wandfeld ist leer gelassen. Inzwischen ist
das linke Relief stark beschädigt, offensichtlich bei einem Versuch, es
aus der Wand herauszulösen.
Bild 7 Eingangsflur, hinten rechts Durchgang zum
Treppenhaus (LDA Münster)
Bild 8 Supraporte (Türsturz) im Flur
zum Raum 2 (LDA Münster)
Die Türstürze sind unterschiedlich ausgebildet: Die beiden
Flügeltüren im vorderen Teil des Flurs sind von Akanthusornamenten
bekrönt, die ein mittleres Emblem einrahmen. Das rechte zeigt ein
Arrangement mit Laute, Panflöte, Klarinette und Blumen (Bild 8), das
linke ein ähnliches Motiv mit Horn, Dudelsack und Flaschenkürbis. Der
Eingang zum Saal gegenüber der Haustür ist von einem Medaillon bekrönt,
das Putten bei der Weinlese zeigt; große, in Blätter auslaufende Voluten
halten das Medaillon. Das Ganze wird nach oben durch ein gekröpftes
Akanthusgesims, mit Rollwerk an das Medaillon gebunden, abgeschlossen.
Das Gesims setzt sich im Flachstab eines Wandfeld-Rahmens fort. Dieser
Rahmen läuft unmittelbar in die dünnen Rundstabumrandungen von zwei
mannshohen, sowohl halbrund abgeschlossenen wie in die Wand eingetieften
Nischen mit marmoriert ausgemaltem Grund hinein. Spuren von
Figurensockeln sind in diesen Nischen nicht zu finden, wahrscheinlicher
hatten hier Blumenarrangements ihren ständigen Platz. Bleibt die Decke:
Ein kräftiger florealer Mäanderstab umschließt drei Felder, von denen
das mittlere, größere den Nachbarfeldern zu durch einen gekröpften Bogen
begrenzt ist. Die somit eingezogenen seitlichen Quadrate sind mit
Diagonal-Flechtwerk bespannt, das im Zwickel auf kleine Rosenknospen
weist, während im Mittelfeld die kräftige Rosette mit dem Rankenwerk der
seitlichen Türbekrönungen korrespondiert.
Bild 9 Stuckdecke in Raum 4 (Kontor)
(LDA Münster)
Nur noch ein Raum des Hauses ist ähnlich aufwändig im Gewände
gegliedert: das Erkerzimmer an der Frontseite, das nach den
Untersuchungen des Landesdenkmalamtes wohl als das ehemalige
Privatkontor anzusprechen ist (Bild 9). Man erreicht es vom Eingang aus
rechts durch ein schlichtes Vorzimmer. Allseits gerade, mit Stab und
Kehle profilierte Stäbe bilden Wandfelder, die nur an den Ecken in
knappen Viertelkreissegmenten eingezogen sind und Fasson und Dimension
des Raumes ablesbar machen. Ein ähnlich profilierter Stab umspielt,
mehrfach gebogen und gekröpft, den Deckenspiegel, in den Kehlen
begleitet von Rokoko-Ornamentik in einer in diesem Hause unübertroffenen
Zartheit. Auch die Rosette, vierstrahlig in diesem fast quadratischen
Raum, ist mit ihren Figurationen und zart auslaufenden Ranken nur noch
der großen Rosette im Gartensaal vergleichbar. Brachten aber dort die
geschweiften Kopf- und Fußenden der Wandfelder noch einen festlichen
Akzent, so wirken die Wandgliederungen hier vergleichsweise streng.
Umgekehrt ist es mit den Decken! (Bild 10) Die stärker geometrisierte
Decke des Gartensaals mit ihren Überschneidungen und Aussparungen von
Geraden, Kreisen (in den Eckmedaillons vor allem), Viertelkreisen und
Ellipsen, Rechtecken und Zwickeln brauchte die verklammernden Voluten,
die kompliziert gerankte Rosette und vor allem das heiter kolorierte
Deckenbild, um in ihrer Strenge gemildert zu werden, während sich die
Decke des Kontors spielerisch heiter entfaltet.
Bild 10 Stuckdecke in Raum 5 (Gartensaal)
(LDA Münster)
Diese drei Räume, Gartensaal, Vestibül und Kontor, setzen in
ihrer Ausstattung und in ihren Proportionen Maßstäbe für das ganze Haus,
ohne dass zu den anderen Räumen eine gestalterische Diskrepanz
entstünde. Überhaupt zeigt jeder Raum nicht nur für sich harmonisch
aufeinander abgestimmte Abmessungen, nicht nur jeweils individuelle
Symmetrien und eigene Achsen, sondern auch durch die jeweils eigenartige
Dekoration einen eigenen Charakter. In diesem Zusammenhang sei nur
hingewiesen auf den soeben beschriebenen Gartensaal und seinen durch
strenge geradlinig gefelderte Deckenstuckatur völlig anders gearteten
Nachbarraum 6. Die Türen unterstützen diesen Unterschied auf ihre Weise:
auf der Saalseite Ton in Ton plastisch gestaltet, zeigen ihre Rückseiten
eine weiße Rankenbemalung auf rotbraunem Grund. Das Können des
Architekten zeigt sich in der Tatsache, dass er diese individuellen
Räume zu einer harmonischen Einheit zu verbinden gewusst hat. Formale
Härten sind in diesem Bau nicht nachzuweisen. Der hintere Teil des
Vestibüls geht nach rechts in eine breite Öffnung über, die bis zur
Gesimszone des Flures hinaufreicht (Bild 7). Das Gesims dient hier als
Türbalken, der von kräftigen Konsolen getragen wird. Dahinter erstreckt
sich bis zur Westwand des Kernbaus das großzügig angelegte Treppenhaus
mit dem um zwei Stufen abgesenkten Durchgang zum Küchentrakt. Ein hohes,
nur in den Zwickeln geziertes Fenster gibt vom Treppenabsatz her dem
zweigeschossigen Raum ausreichend Tageslicht. Hier wird die Bauzier
sparsamer. Ein geschweifter Sprenggiebel mit zentralem Muschelemblem als
Supraport der Tür zum Speisezimmer (?) (Raum 6), die mit
Kugelstabprofilen kassettierte Unterseite des oberen Treppenlaufs und
die Rankenstabeinfassung unter dem Treppenpodest sind an Stuckzier
zunächst alles. Reizvoll wirkt ein Materialkontrast: Naturlasiertes
Eichenholz tritt auf in den Treppenwangen, ihrem Auflager, den Stößen,
dem in einen prachtvollen Drachenkopf auslaufenden Handlauf und der
reich geschnitzten Säule, deren figürlicher Aufsatz nicht mehr vorhanden
ist. Der im ganzen Flur verwendete Bodenbelag, durch breite schwarze
Streifen eingefasster hellgrauer Marmor, setzt sich in den
aufgesattelten Stufen fort. Der Handlauf wird gestützt durch ein
Geländer aus zahlreichen silberfarbenen, knotig verzierten Rundstäben,
die durch eine verzierte Verkröpfung seitlich in den Treppenwangen
gehalten werden.
Bild 11 Treppenhaus, vom Absatz hergesehen
(LDA Münster)
Im Obergeschoß trennt ein schlicht profilierter Rundbogen (Bild
11), ähnlich wie er sich über dem Treppenabsatz erhebt und die
Fensternische absondert, Treppenhaus und Vorplatz. Der
Obergeschoßgrundriss entspricht weitgehend dem des Erdgeschosses.
Einziger Zierrat sind hier die überall gleichen geradlinigen Türstürze
mit Zahnschnitt zu den Räumen und zum Flur hin sowie die insgesamt
schlichteren Stuckdecken, deren Motive in Rankenstäben und Rosetten
allerdings in keinem Raum wiederholt werden. In den meisten Fällen
finden wir eine einfache rechteckige Einfassung des Spiegels durch
mehrere parallel laufende Stäbe unterschiedlicher Gestaltung,
Eckornamentik höchstens in Raum 9, 10 und 12 (über dem Kapellenraum, dem
Vorzimmer und dem Gartensaal). Die Wände dagegen sind durchweg glatt
belassen.
Bauherr und Architekt bedienten sich bei ihrer Ausgestaltung
zweifellos ebenso überlieferter Formen wie vorgeformter und in Serie
hergestellter Stuckmotive. Nirgendwo aber macht sich der Eindruck des
Konfektionellen oder gar gedankenlos Hineingeklatschten bemerkbar. Im
Gegenteil: Die Sorgfalt der Auswahl, Zusammenstellung und der
handwerklichen Durchführung würde - bei einem zweifellos anderen
Formenschatz - heute noch jedem Architekten zur Ehre gereichen. Diese
Art der Innenraumgestaltung als Kitsch abzuqualifizieren, scheut man
sich immer mehr, je deutlicher man sich bewusst macht, wie weit wir
heute noch in Traditionen eingebunden sind und wie weit die sogenannten
„originären" Stile Renaissance, Barock und so weiter auf längst
vorhandene Formen und Motive zurückgreifen und damit den Geist der
vergangenen Zeiten - vor allem der Antike - neu zu beleben und zu
interpretieren versuchen.
Nachzutragen sind die Ausstattungen einiger Erdgeschoßräume. Da
ist links neben dem Hauseingang der als Kapelle genutzte Raum mit einem
Fußboden aus reich mit Intarsien eingelegten Parkett unter einem
kreisrunden Deckenspiegel mit großer Rosette, der durch Kreismedaillons
mit der wandparallelen Randeinfassung verbunden ist. Im gleichen Raum
befand sich ein Porzellankamin, der restlos entfernt wurde. Ebenso
erging es den Kaminen im Gartensaal und im Kontor, von deren Existenz
zurzeit nur noch leere Mauerlöcher zeugen.
Bild 12 Geländer (LDA
Münster)
Bild 13 Kamin (LDA Münster)
„Werke der Kunst werden zerstört, sobald der Kunstsinn
schwindet."
Goethe, Maximen und Reflexionen
„Heimatverein Warendorf
An den
Rat und die Verwaltung der Stadt
Warendorf
Die Mitgliederversammlung des Heimatvereins, die am 8. Jan.
1973 im Kolpinghaus zu Warendorf tagte und sich insbesondere durch einen
Vortrag von Herrn Landesverwaltungsdirektor Dr. Mühlen mit dem
Sophienstift beschäftigte, richtet an Rat und Verwaltung der Stadt
Warendorf die folgende, mit überwältigender Mehrheit der rund 250
Anwesenden gefasste Empfehlung:
1.
Die Mitgliederversammlung bringt als Resümee der Beratungen und
einer Ortsbesichtigung des Vorstands zum Ausdruck, dass das Sophienstift
a)
im Kern seiner Bausubstanz gesund ist,
b) als
vorzügliches Bauwerk der Gründerzeit Denkmalwert besitzt,
c)
als Repräsentationshaus einer der ersten Warendorfer
Industriebetriebe auch von besonderem geschichtlichen Wert für die Stadt
ist,
d) als
kulturelle und soziale Begegnungsstätte (Freizeitzentrum) im Rahmen des
hier geplanten Emsseebereichs erhalten werden sollte.
2.
Die Mitgliederversammlung empfiehlt dem Rat, den am 21. 6. 1972
gefassten Abbruchbeschluss über das Sophienstift unter Berücksichtigung
der vorgenannten Punkte noch einmal zu überprüfen, zwischenzeitlich um
den Erhaltungszustand des Hauses besorgt zu sein.
3.
Die Mitgliederversammlung erklärt sich bereit, einen sachlichen
und finanziellen Beitrag seitens des Heimatvereins zur Erhaltung und
späteren Nutzung des Hauses zu leisten.
„STADT WARENDORF
441 Warendorf/Westf., den 8. 2. 73
Der Stadtdirektor
Fernruf (0 25 81) 25 41
Akt.-Z. 10/40, — E. Nr. 147/148
Postfach 560
An den
Heimatverein Warendorf
z. Hd. Herrn Dr. Leidinger
441 Warendorf
Luise-Hensel-Str. 3
Betr.: Sophienstift Sassenberger Straße
Bezug: Ihr Schreiben vom 31. 1. 1973 mit beigefügter Empfehlung
vom 8. I. 1973
Sehr geehrter Herr Dr. Leidinger,
ich bestätige den Eingang Ihrer vorgenannten Schreiben und
teile Ihnen hierzu mit, dass die Angelegenheit überprüft wird.
Nach Abschluss der Überprüfung erhalten Sie unverzüglich
weitere Nachricht.
Hochachtungsvoll
I. A. gez. Geuer"
Ohne weitere Nachricht ist im März 1973 seitens der Stadt das
Abbruchbegehren bei der Bauaufsichtsbehörde des Kreises erneuert worden.
[1]
(mit kleinen Schreib-und Rechtschreibmodikationen des Artikels
aus den Warendorfer Schriften, Heft 3, 1973, Seiten 47 bis 63,
sowie Neuordnung der Bilder – Stand Aug. 2022)
[2]
Die Tonwarenfabrik Ernst March Söhne in
Charlottenburg (gegr. 1835) gehörte zu den größten und
angesehensten Firmen für dekorative Baukeramik. „Ihre Produkte
stehen im engen Zusammenhang mit dem Berliner Bauwesen zur Zeit
Friedrich Wilhelm IV. und der Schinkelschule. Die Goldmedaille
auf der großen Industrieausstellung des Zollvereins im Berliner
Zeughaus 1844 gewinnt (March) nicht zuletzt wegen des
antikisierenden Stils seiner Fabrikate; „jeder seiner Arbeiten
ist unverkennbar der Stempel eines sehr geläuterten Geschmacks
und eines feinen Sinnes für Form und Farbe auf das Rühmlichste
aufgedrückt“ (Amtl. Bericht 1844 II, S. 35.)
(Ausstellungskatalog „Historismus"
Kunstgewerbemuseum Berlin 1973 Firmenverzeichnis.)