Der Wilhelmsplatz
liegt außerhalb der Warendorfer Stadttore, hinter Wall und
Graben. Er war das Reit- und Übungsgelände der Pferde des
Landgestüts, das sich bis 1889 am Münstertor befand.
Zur Stadt hin bildete der
alte Stadtgraben die Grenze. Eine breite Brücke führte über den
Graben in die Stadt. Auf Bitten des damaligen Bürgermeisters
Schnösenberg schenkt 1823 der Preußische König Friedrich Wilhelm
III. der Stadt Warendorf die Torpfeiler aus der 1803
säkularisierten Zisterzienserabtei Marienfeld. Sie wurden am
Münstertor aufgebaut und verschönern seither diesen Eingang in
unsere Stadt. Der angrenzende Platz benannte man zum Dank
„Friedrich-Wilhelm-Platz“, später kurz Wilhelmsplatz.
Schon vor 1900 wurden die Häuser auf der Westseite des Platzes
erbaut. Von ihren Bewohnern aus der Zeit nach dem ersten
Weltkrieg möchte ich erzählen.
Die Nachkriegszeit war
überall spürbar. Der Wilhelmsplatz war verwildert, Holz wurde
gelagert, für Kinder ein ideales Spielfeld. Abwechselung gab es
durch den Viehauftrieb zu Fettmarkt, die Kirmes zu Mariä
Himmelfahrt und zu Fettmarkt und durch die durchziehenden
Zigeuner, die hier lagerten.
Die am Wilhelmsplatz wohnenden Familien hatten ein gutes
nachbarschaftliches Verhältnis, einige waren freundschaftlich
verbunden. Doch hinter den verschlossenen Türen gab es viel Not
und Sorge in den kinderreichen Familien. Eine Versorgung aus der
öffentlichen Hand gab es nur selten.
Im Hause Blenker an der Ecke
zum Wilhelmsplatz wohnte die Witwe Brügge mit 11 Kindern. Drei
Kinder waren als Kleinkinder gestorben.
1914 war Familie Brügge nach Warendorf gezogen. August Brügge
hatte in der Firma Hagedorn Arbeit gefunden. Schon im März 1916
verlor die Familie ihren Vater und Ernährer durch einen
plötzlichen Tod. Geldliche Reserven waren nicht vorhanden. Die
großen Söhne waren schon in der Ausbildung oder im Beruf. Drei
der vier Töchter wurden Ordensschwestern.
Wegen der geringen Geldmittel
musste Frau Brügge mit den Kindern aus der großen Wohnung im
Parterre in das Dachgeschoss ziehen, später sogar in die
Scheune. Wenn die Miete nicht bezahlt werden konnte griff der
Hausbesitzer hart durch. Beihilfen aus Sozialfonds gab es in
diesen schweren Nachkriegsjahren nur für ganz schwierige
Notlagen. Erst als auch die jüngeren Kinder Geld verdienten war
die schlimmste Zeit vorbei und Familie Brügge konnte sich wieder
in eine bessere Wohnung leisten.
Mit Anna Brügge verbindet
mich ein besonderes Erlebnis. Sie war im November 1900 in
Neuenkirchen geboren, wie alle ihre Geschwister. Am Ende ihrer
Schulzeit etwa 1914 half sie meiner Mutter als Kindermädchen.
Ich war damals ein Kleinkind und wurde oft von Anna im
Sportwagen ausgefahren. Anna hatte mich sehr in ihr Herz
geschlossen und ich mochte sie auch sehr gern.
Anna wurde Ordensschwester und war 1930 als Stationsschwester im
Krankenhaus in Geldern tätig. Ich war zur Ausbildung in der
Landfrauenschule in Geldern. Während eines Krankenhauspraktikums
kam ich auf ihre Station. Schwester Eutalia – so hieß Anna
Brügge jetzt – erkannte mich sofort, ich sie aber leider nicht.
Nach Vorschrift des Ordens durfte sie nicht über persönliche
Dinge reden. Wenn das Gespräch auf Warendorf kam und auf das
Sophienstift, einem beliebten Erholungsort der
Clemensschwestern, brach sie in Tränen aus und lief in die
Kapelle. Ich konnte mir ihr Verhalten überhaupt nicht erklären.
Die arme Anna war schwer krank. Sie starb schon am 28.2.1931.
Diese erschütternde Tatsache erfuhr ich Jahre später in einem
Gespräch mit ihrer Schwester Hanna. Erst da wurde mir klar, wer
Schwester Eutalia war und warum meine Gegenwart ihr das Herz so
schwer gemacht hatte.
Im Eckhaus zur Wilhelmstraße
betrieb die Familie Merkel-Huster einen Eisenwarenhandel mit
Verkauf von Melkeinrichtungen und Haushaltswaren aller Art. In
den Jahren nach dem ersten Weltkrieg entwickelte sich diese
Branche so rasant, dass die Firma Huster Bispings Scheune (Ecke
Brinkstraße) kaufte und 1933 ein großes, modernes Geschäft für
Haushaltswaren, elektrische Geräte und Installationen erbaute.
Beim Nachbarn, dem Anstreicher
Langenbach, sah man den alten Oskar oft vor der Tür
sitzen, immer seine lange Pfeife rauchend. Das Familienleben
spielte sich fast bei jedem Wetter hier im Anblick des
Wilhelmsplatzes ab. Oskar Langenbach kam aus dem evangelischen
Bielefeld und heiratete eine hübsche Bauerntochter aus Vohren.
Neben ihm vor der Haustür saß oft seine Tochter Friedchen und
schälte die Kartoffeln. Sie war groß und dünn. Mit hochgezogener
Schulter, langen schwarzen Kleidern, Schlappen an den Füßen
schlurfte sie durchs Haus. Sie litt unter den Folgen einer
Hirnhautentzündung, an der sie mit 18 Jahren erkrankt war.
Bei gutem Wetter gesellte sich samstags Sohn Oskar dazu. Er
reparierte und schraubte an seinem Motorrad herum, damit er am
Sonntag seine Runden mit lauten Knattern auf dem Wilhelmsplatz
drehen konnte, zum Gaudi der Nachbarjugend.
Neben dem Nachbarn Terwort bewohnte die Familie Hagemeyer ein großes Haus. Engelbert
Hagemeyer war Metzgermeister. In dem Geschäftshaushalt mit
sieben Kindern, Lehrjungen und Gesellen musste viel organisiert
und geleistet werden. Die Mutter leitete nicht nur den großen
Haushalt, sondern auch das Geschäft. Um 1900 hatte das junge
Ehepaar das Haus am Wilhelmsplatz gekauft, und das Leben einer
großen Familie begann. Sieben Kinder wurden großgezogen - ein
Zwillingskind starb kurz nach der Geburt.
Im Metzgerladen wurden
frisches Fleisch und die Erzeugnisse der Wurstküche verkauft.
Der erste Weltkrieg brachte große Probleme, Engelbert Hagemeyer
wurde eingezogen. Das Geschäft konnte ohne Metzgermeister nicht
betrieben werden. Wovon sollte die große Familie leben? Mutter
Hagemeyer nahm Seminaristen als Kostgänger ins Haus. Die eigene
Familie mit Lehrjungen zählte schon mehr als 10 Esser, nun
musste für 16 - 20 junge Leute gesorgt werden. Als Vater
Hagemeyer nach dem Krieg seine Arbeit wieder aufnehmen konnte
und sich die Lebensmittelversorgung langsam besserte, ging es
aufwärts. Er kaufte Vieh ein, verkaufte die Produkte aus
Schlachterei und Wurstküche im Laden und fuhr jeden Samstag früh
um 4 Uhr mit Pferd und Wagen zum Wochenmarkt nach Münster auf
dem Domplatz. Bei Eis und Schnee bekamen die Pferden Socken über
die Hufe gezogen, damit sie nicht rutschten.
Wir spielten gern bei Hagemeyers, denn Kathrinchen, die Jüngste,
war unsere lebenslange Freundin. Zu Weihnachten wurde es
besonders spannend in der Großfamilie. Im Wohnzimmer bauten die
Brüder mit viel Geschick und Phantasie die Weihnachtskrippe auf,
mit kleinen Seen, einem Wasserfall und ganz vielen Tieren.
Nachbar Wittenbrink war
Schreinermeister. Das Holz für die Bauschreinerei lag in den
ersten Jahren nach dem Krieg auf dem Wilhelmsplatz. Die Kinder
spielten dort gerne, bis ein Unfall passierte. Hanna, Fitti,
Fina und Bernhard Wittenbrink waren in unserem Alter. Das fünfte
Kind kam sehr tragisch ums Leben. Es aß ein paar Stücke
Seifenstein, die wie Bonbons aussahen und starb an den inneren
Verbrennungen. Ich erinnere mich noch genau an den kleinen,
weißen Sarg, in dem das niedliche Mädchen lag. Zum ersten Mal
erlebten wir hier den Tod aus nächster Nähe. Zum Trost bedeckten
wir das weiße Kleidchen mit Heiligenbildchen, so war es früher
üblich.
Das Eckhaus zur Münsterstrasse
überließ Anton Hagedorn dem Schmiedemeister Buck. Das
Fachwerkhaus mit der Schmiede war jahrzehntelang der Blickfang
an der Straße nach Münster. Das Schmiedefeuer sah man schon von
weitem. Der Ambos stand mitten der Schmiede und wir guckten
stundenlang zu, wie die Pferde mit neuen Hufeisen beschlagen
wurden. Mit Schaudern sahen wir, wie die glühenden Eisen auf die
Hufe der Pferde gepresst wurden, um dann angenagelt zu werden.
Der Qualm und der Gestank von verbranntem Horn machten uns
Angst. Außerdem taten uns die Pferde leid, obwohl sie all das
mit stoischer Ruhe über sich ergehen ließen.
Während des Krieges und in der Nachkriegszeit war das
Schmiedehandwerk sehr gefragt. In den 30er Jahren wurde der
Handel mit Motorrädern und später auch Autos, Opel natürlich,
immer wichtiger und verdrängte langsam den Schmiedebetrieb. Frau
Buck musste für eine große Familie sorgen. 11 Kinder hatte sie
geboren, von denen zwei als Kleinkinder starben. Die Söhne
hatten Glück, sie waren für den Wehrdienst noch zu jung und
konnten das Schmiede- und Wagenbauerhandwerk erlernen.
Der große Backsteinbau auf
der anderen Straßenecke war im Besitz der Familie Maas. Herr
Maas hatte ein Geschäft mit einer Werkstatt. Der Krieg war die
1. Notzeit für die Familie. Der Vater kehrte nach einigen
Soldatenjahren zu Familie und Geschäft zurück, aber das Glück
währte nicht lange. Ende 1918 starb Herr Maas nach kurzer
Krankheit. Frau Maas stand mit ihren 6 Kindern mittellos da.
Gespartes Geld oder gar eine Rente waren nicht vorhanden. Das
Haus mit dem Geschäft wurde zur Versorgungsgrundlage. Die große
Familie war auf jeden Pfennig Verdienst angewiesen, darum
vermietete Frau Maas das Haus und zog mit der großen Familie in
die kleine Dachwohnung. Dort nähte sie im Stücklohn
Arbeitskleidung.
Aufgrund freundschaftlicher Beziehungen wurde Metzgermeister
Engelbert Hagemeyer Vormund der Kinder. Er war schon 1903
Hermanns Taufpate geworden und hat ihm später geholfen, Pater zu
werden, das war Hermanns innigster Wunsch.
Erst als Therese, Hanna und Adele genug Geld verdienten, konnte
eine größere Wohnung bezogen werden. Anni wurde Ordensschwester,
so war auch sie versorgt. Elisabeth, die jüngste Tochter, ein
liebes, frommes Mädchen, war meine Mitschülerin, sie starb schon
1926.
In der Familie Maas wurde viel gebetet; wir Nachbarkinder haben
oft am Abend den Rosenkranz mit ihnen gebetet.
Durch die Kinder Irma und Walter
kamen wir auch in das Nachbarhaus zum Viehhändler Hugo Spiegel.
Irma und Walter besuchten mit uns die Volksschule. Frau Spiegel
war eine sehr freundliche Frau. Wenn vor Ostern das Paket mit
den Matzen auf dem Küchentisch stand, durften wir davon nehmen,
soviel wir wollten. Aber so gut schmeckten sie uns auch wieder
nicht, sie klebten so an den Zähnen. Ein großes, aber sehr
leichtes Paket Matzen brachten wir zu Irmas Onkel, dem
Viehhändler Arnold Spiegel und seinen Schwestern Ella und
Frieda. Die beiden Schwestern betrieben ein Trikotagengeschäft
in der Altstadt am Ende der Münsterstraße.
Das Halbrund des bebauten
Wilhelmsplatzes endete mit dem Haus des
Bürgermeisters Hugo Ewringmann. Seit 1904 lebte das Oberhaupt
unserer Stadt hier am Wilhelmsplatz Nr.8 mit seiner Frau und den
acht Kindern. Die liebenswerte, zierliche Frau Selma Ewringmann
verlor bei der Erziehung ihrer lebhaften Kinder (zwei Töchter
und sechs Söhne) mit viel Singen, Lachen, Krach, Musik,
Schulaufgaben nie ihren Humor. Damit alle Kinder eine gute
Ausbildung bekommen konnten, sparte sie eisern. Sie nähte viel
für die Kinder und aus den alten Glacéhandschuhen ihres Mannes
machte sie sehr beliebte, weiche Bälle zum Spielen.
Ihren Aufgaben als Frau des Bürgermeisters kam Frau Ewringmann
gewissenhaft nach. Hatte der Bürgermeister von dem wohlhabenden
Amsterdamer Goldschmied Heinrich Miele, einem geborenen
Warendorfer, mal wieder eine ansehnliche Geldsumme bekommen, so
verteilte Frau Ewringmann das Geld gerecht in Umschläge und
brachte es im Halbdunkel, begleitet von ihrer Tochter Hanni, zu
den Ärmsten der Armen.
Auf der Liste standen auch die Bewohner des langen Jammers an
der Südseite des Wilhelmsplatzes.
Hinter dem Wilhelmsplatz war
die Ziegenbockstation. Zu bestimmten Zeiten zogen die zumeist
alten Frauen die weiblichen Hippen an einem Strick über den
Wilhelmsplatz. Die stanken immer ganz furchtbar. Es gab viele
Hippen in Warendorf. Sie wurden die Kuh des kleinen Mannes
genannt. Zur jährlichen Hauptversammlung des Ziegenzuchtvereins,
dessen Vorsitzender der Bürgermeister war, kam in jedem Jahr der
Ziegenbaron „Dr. Meck Meck“, Professor Landois persönlich aus
Münster. Er hatte ein offenes Ohr für die Not der kleinen Leute
und half, wo er konnte.
Am Leben der Wilhelmsplatz-Familien
lässt sich erkennen, wie schwer die Nachkriegsjahre waren. Die
Inflation verschlimmerte die Lage, die Menschen mussten hart um
das tägliche Brot kämpfen. Wie gut, dass es in größter Not
nachbarschaftliche Hilfe gab.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke
wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in
einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf.
Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen
aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre
aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103
Jahren.
Bilder: Archiv der Altstadtfreunde Warendorf
alle Rechte vorbehalten: Eugenie Haunhorst 2006