Wenn ich die wunderschön blühenden Apfelbäume sehe, erinnere ich
mich an die glücklichen Augen meines Vaters, wenn er diese
Frühjahrspracht sah. Natürlich erfreute er sich an dem strahlenden
Weiß der Blüten, aber er hatte auch schon die reiche Apfelernte im
Sinn.
Wir hatten selbst in unserem Garten nur wenige Obstbäume, darum verfolgte Vater mit großem Interesse das Gedeihen der Äpfel an den Chausseebäumen. Die Landstraße von Warendorf zum Klauenberg war an der Nordseite mit Apfelbäumen bepflanzt. An der Südseite verlief seit 1887 die Eisenbahnstrecke. Nach dem 1. Weltkrieg, also in den Zwanziger Jahren, war unsere Familie Nutznießer dieser volkswirtschaftlich sehr weisen Anpflanzung. Die ohne Schnitt im Wildwuchs stehenden Bäume wuchsen prächtig und trugen Äpfel verschiedener Sorten.
Von der Kreisstraßenbauverwaltung in Warendorf wurden die Apfelbäume zur Zeit der Reife versteigert. Vorher war das Pflücken streng verboten. Äpfel aufsuchen durfte man allerdings. Hatte es in der Nacht gestürmt, weckte uns unsere Mutter um 6 Uhr in der Früh. Mein älterer Bruder Otto und ich fuhren dann eilig in Richtung Klauenberg, mit leeren Taschen an den Fahrrädern. Wir mussten einige Kilometer weit herausfahren, denn es nutzten viele Leute diese gute Gelegenheit der Fallobsternte. An einem „guten Baum“ – wir wussten genau, wo die leckeren Äpfel wuchsen – füllten wir schnell unsere Taschen und radelten schwer bepackt wieder heim. Zu Hause war dann nur noch Zeit für ein eiliges Frühstück, denn wir durften nicht zu spät zur Schule kommen.
Äpfel waren ein sehr wichtiges Lebensmittel in der damaligen Zeit. Jeden Tag gab es zum Mittagessen frisches Apfelmus und auf den sonntäglichen Kaffeetisch gehörte ein selbstgebackener Apfelkuchen. Durch seine gute Lagerfähigkeit war der Apfel im Winter der wichtigste Vitaminspender. „An apple a day keeps the doctor away!“ Diesen englischen Spruch kannten wir damals schon.
Am Tag der Apfelbaum-Versteigerung versammelten sich viele Menschen an der Klauenberger Chaussee. Unser Vater ersteigerte immer einen Block, etwa vier bis fünf Bäume. Wenn er Glück hatte, bekam er die mit den „guten Äpfeln“. Boskop war besonders beliebt, denn die Äpfel konnte man bis Ostern lagern – sofern sie nicht schon gegessen waren. Die ersteigerten Bäume mussten am gleichen Tag abgeerntet werden, danach waren alle Bäume zum Ernten für jedermann freigegeben.
Nach dem Mittagessen wurde bei uns der Bollerwagen mit einer Leiter, zwei Apfelpflückern und mit Taschen beladen. Zwei Kinder zogen den Bollerwagen über die Landstraße Richtung Klauenberg, die anderen kamen mit den Fahrrädern. Gut, dass wir fünf Kinder hatten, jetzt wurden alle helfenden Hände gebraucht.
Hatten wir die für uns markierten Bäume gefunden, ging es eifrig ans Pflücken und Aufsuchen. Die Pflückäpfel wurden vorsichtig in den Bollerwagen gepackt, die Falläpfel kamen in die Taschen. Zur Kaffeezeit kam unsere Mutter mit dem Fahrrad und brachte uns Reibekuchen und Saft, ein wohlverdienter Schmaus. Waren unsere Bäume abgeerntet, zogen wir mit dem hochgefüllten Bollerwagen und schweren Taschen am Fahrrad gen Heimat. Wir hatten einen anstrengenden, aber einträglichen Familienausflug erlebt.
Zu Hause füllten wir die Apfelregale im kühlen Keller und waren stolz, für den Wintervorrat gesorgt zu haben.
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in Warendorf
geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf. Im
Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen aus ihrem Leben im
Warendorf der 1920er Jahre aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von
103 Jahren.