Früher
gingen die Menschen weite Wege zu Fuß. Das war oft sehr beschwerlich.
Fast alle Kinder kamen zu Fuß zur Schule, der Schulweg dauerte nicht
selten länger als eine Stunde. Ein Fahrrad besaßen nur sehr wenige, denn
Fahrräder waren teuer und gingen schnell kaputt. Wer ein Fahrrad hatte,
musste es recht oft schieben, weil ein Reifen platt war. Die Straßen
waren schlecht und das Material der Bereifung war sehr empfindlich.
Jedes Fahrrad hatte eine kleine Satteltasche, in der sich das notwendige
Flickzeug befand und Fahrrad flicken, das musste jeder Radfahrer können.
1918, nach dem ersten Weltkrieg, gab es die tollsten
Fahrraderfindungen. Eine Bauersfrau hatte ein ganz besonders patentes
Fahrrad: An Stelle der empfindlichen Gummibereifung bestanden die Reifen
aus Spiralen. Das klapperte und eierte zwar, aber es funktionierte. Das
Rad wurde viel bewundert und war ein so gut gehüteter Schatz, dass die
Frau es sogar mit in die Kirche nahm und es während der Messe hinten im
Turm abstellte. Fahrrad fahrende Frauen waren allerdings Anfang des
Jahrhunderts der Kirche ein Dorn im Auge. Vikar Schnellebrink von der
Marienpfarre fürchtete um die Sittlichkeit und sagte besorgt: „Wie
kriegt wie blos die Fraulüe wieder von`t Rad?“ Das ist ihm nicht
gelungen.
Unser Vater war schon vor dem 1. Weltkrieg stolzer Besitzer
eines Fahrrades. Es kostete damals ca. 30 Mark, das war der Wochenlohn
eines Arbeiters. Für Vater war ein Fahrrad sehr wichtig, weil er so
seine Kollegen in den umliegenden Landschulen besuchen und sich mit
ihnen austauschen konnte.
Jeder Fahrradfahrer musste mit einer Glocke oder einer
Signalpfeife versehen sein und bei Dunkelheit eine hell brennende
Laterne vorne am Fahrrad mitführen. Neuerdings hatten die Fahrräder
sogar eine Handbremse, allerdings keine Rücktrittsbremse, denn die
Fahrräder hatten noch keinen Freilauf, d.h. die Pedalen drehten sich
immer weiter.
Lehrer Richard Göcke | Lehrer Wilhelm Witte |
Wichtig beim Aufsteigen auf das Herrenrad war der „Tappen“,
eine Trittstelle, die an der Narbe des Hinterrades links angebracht war.
Seine wichtigste Aufgabe war es, Hilfe bei dem möglichst eleganten
Beinschwung beim Aufsteigen zu leisten. Das musste schnell gehen, denn
wegen des fehlenden Freilaufs drehten sich die Pedalen schon beim
Anschieben. Eine Bremsung musste auch von langer Hand vorbereitet werden
– sie ist wahre Handarbeit – und Vater musste dann schnell über den
Tappen absteigen.
Gepäckträger gab es auch noch nicht. Wenn Vater
einen seiner Kollegen besuchen wollte, durfte ich manchmal mitfahren:
Das ging nur auf dem Tappen: Der linke Fuß stand auf dem Tappen, das
rechte Knie klemmte auf dem Schutzblech und mit beiden Händen hielt ich
mich an Vaters Schultern fest.
Auf den Tappen aufspringen konnte ich allerdings
erst, wenn Vater auf dem Sattel saß, also, wenn das Fahrrad schon ganz
schön in Fahrt war. So ging die Fahrt über Land, nach Gröblingen zu
Lehrer Schwienhorst, nach Milte zu Lehrer Witte und auch nach
Westkirchen zum Kollegen Heitfeld. Während der langen Fahrt wurden mir
manchmal der Fuß, das Knie und auch die Arme lahm, aber so ein Ausflug
war jede Mühe wert.
Für Vater war solch eine Fahrt wahrlich
halsbrecherisch, ein Rad ohne Freilauf und dann noch mit so einem
kleinen Klammeräffchen hinten auf dem Schutzblech! Beim Stoppen rief er
mir frühzeitig das Abspring-Kommando zu, damit der Tappen frei war und
auch er absteigen konnte.
Man kann gut verstehen, dass unsere Eltern dafür sorgten, dass
wir frühzeitig Fahrrad fahren lernten, um selbständig fahren zu können.
Natürlich gab es noch keine Kinderfahrräder – das schwere, schwarze
Miele-Fahrrad bürgte für Qualität und wurde auch von den Kindern
gefahren.
Wir gingen sehr sorgsam mit unserem Fahrrad um. Nie hätten wir es
draußen vor dem Haus stehen gelassen. Wir trugen es sofort nach Gebrauch
hoch in unsere Wohnung im 1. Stock. Auf dem Podest hatte unser Bruder
Otto eine Vorrichtung gebaut, dass die Räder an die Decke gezogen werden
konnten – das sparte Platz und schonte die Reifen.
Bis nach dem 2. Weltkrieg unterhielt Theo Löhrs in Grönes Scheue an
der Lüningerstraße, gegenüber dem alten Josefs-Hospital, eine
Fahrradverwahrstation, in der man für 10 Pfennig sein Fahrrad sicher
abstellen konnte.
Das Fahrrad stellte einen wertvollen Besitz dar und erhöhte die
Mobilität ungemein, ja, es brachte neue Lebensqualität.
Eugenie Haunhorst
Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke wurde 1912 in
Warendorf geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier
Geschwistern auf. Im Alter von 90 Jahren begann sie,
Erinnerungen aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre
aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 Jahren.
Apfelernte an der Äppelchaussee