Klaus Gruhn (links) und Norbert Funken (rechts)
„O Warendorf, Idylle meiner frühen Jahre,
wo ich als frohes Kind gespielt,…
Der Ort, wo Himmelslicht auf jeder Szene liegt
Und wo die Phantasie das Herz in süßen Frieden wiegt…“
Sie haben es sicher herausgehört: Das ist nicht Schallück. Es
sind Verse von Christoph Bernhard Schlüter, geb. 1801 in Warendorf,
Förderer der Dichterin A. v. Droste-Hülshoff.
„Ernst die Männer, hold die Frauen,
kräftig schaffen, fromm Gebet!
…
Mög‘ des Glückes Himmel blauen,
Heimat, golden dir und stet!
Vermutlich wird Ihnen diese vierte Strophe des Gedichtes „Stadt
in Wiesen“ bekannt sein, der Text ist von Anton Aulke. Auch damit ist
eine falsche Spur gelegt, wenn wir heute, am 100. Geburtstag Paul
Schallücks, dem Warendorfer Schriftsteller nähern wollen.
Aber Umwege können auch zum Ziel führen:
Denn solche Verse über seine Heimatstadt flossen nicht aus
seiner Feder.
„So kann das Leben doch nicht sein,
so zwischen Pult und sattem Mahl,
so ohne jeden Feuerschein,
und ohne jede Lebensqual.
Kein Drängen in der breiten Brust
Zu unerstiegnen hohen Zielen …
Nur wiederkaun, was andern schmeckte…
Warum nicht mal vom Lande springen
In den verteufelt wilden Fluss?
Warum nicht um sich selber ringen
In jugendheilgem Wuterguss?
[1]
Das klingt programmatisch, rebellisch nach Sturm und Drang. Er
wollte nicht, wie in Schillers Räuber zu lesen ist, „zu ewger Blindheit
verdammt“ sein
[2].
Wie Heinrich Heine, den Schallück in seinen Texten und vor
allem im Roman Engelbert Reineke immer wieder zitiert und als sein
Vorbild anzunehmen ist, nimmt er sich vor,
„Ein neues Lied, ein besseres Lied,
o Freunde, will ich euch dichten!“
[3]
Er wollte von idyllischen Gassen, verträumten Winkeln, hohen
Giebeln und dem silbern glänzenden Fluss zwischen Heide und Moor nichts
wissen. Das romantisierende Bild einer
„Stadt in Wiesen, Stadt in Gärten …
Vor der Linden Duft umzittert,
von des Ackers Ruch umzittert …[4]
widersprach seinen literarischen Grundsätzen.
Damit musste er beim Warendorfer Bürgertum anecken. Er ging
bewusst das Risiko ein, wie Heinrich Heine sein Vaterland zu
verlieren, wie sein Freund Heinrich Böll von den Kölner „scheel“
angesehen zu werden oder, literarisch eine Stufe tiefer, Joseph Winkler,
Schamoni und Jägersberg von Münsteranern ignoriert zu werden. Das nahm
Schallück in Kauf. Sein Dogma lautete:
Die Künste, und dazu gehört auch die Literatur, müssen„hervorlocken aus
der Dämmerung des Nichtsehens, hervorrufen aus Stumpfheit und
Gleichgültigkeit. Sie dürfen keine Rücksicht nehmen. Rücksicht ist
Bestätigung des Bekannten, des eingewöhnten Geschmacks, ist Erstarrung.“[5]
[1] Paul Schallück, Im Joche des Pedanten
in: Warendorfer Schriften, Bd. 13-15 (1985), S. 185
[2] F. Schiller, Die Räuber (Moor im 5.
Akt, letzter Auftritt)
[3] H. Heine, Deutschland – Ein
Wintermärchen in: Heines Werke, Berlin (Aufbau Verlag),1981,
Bd, 2, S. 94
[4] A. Aulke, Stadt in Wiesen in: Anton
Aulke, Münsterland, Warendorf (Schnell) 1967,
S. 41
[5] P. Schallück, Anmaßung in: Paul
Schallück, Moment mal! Köln (Nyland) 2003, S. 10
Warendorf und Paul Schallück – eine dramatische Geschichte.
Eine Auseinandersetzung, die mit harten Bandagen ausgeführt wurde, aber
zu einem versöhnlichen Ende geführt hat. Deshalb fällt am heutigen 100.
Geburtstag des Warendorfer Schriftstellers auch kein böses Wort, obwohl
viele in den 50er Jahren gefallen sind, die, wenn sie wieder zitiert
würden, alte Wunden aufbrechen ließen. Aus dem bekanntesten Werk des
Literaten soll aber der gut gemeinte Rat der Mutter des Engelbert
Reineke erwähnt werden:
“Man sollte Vergangenes vergangen sein lassen!“[1]
Schallück wollte kein Heimatdichter sein. Seine Generation
hatte genug von deutscher Heimaterde, von stolzen Eichen, von
stahlharter Jugend und bodenständiger Lebensform gehört. Und als
Warendorfer hatte Schallück zu oft von trauten Ecken in verwinkelten
Gassen, von stolzen Giebeln und Menschen, die mit Eichen verglichen
wurden, gehört. Und Schlimmeres war dem jungen Menschen, der verwundet
aus dem Krieg heimgekehrt war, zu Ohren gekommen: Die Bürger hatten
offensichtlich nichts begriffen und dachten und redeten weiter, als sei
nichts geschehen.
„So kann das Leben doch nicht sein,
so zwischen Pult und sattem Mahl…
Kein Drängen in der breiten Brust
Zu unerstiegnen hohen Zielen:
…Nur wiederkaun, was andern schmeckte…
Warum nicht mal vom Lande springen
In den verteufelt wilden Fluss?
Warum nicht um sich selber ringen
In jugendheilgem Wuterguss?“[2]
Sie haben richtig gehört: Da ist von sattem Mahl und vom
Wiederkaun auf der einen Seite die Rede und auf der anderen von
unerstiegnen Zielen, vom Ringen um sich selbst und vom jugendheilgen
Wuterguss.
Dieser Wuterguss traf auch die idyllische Kleinstadt an der
Ems. Keiner hat, so sieht es der Schriftsteller Siegfried Lenz „so
direkt nach der Wahrheit gefragt“ wie Paul Schallück.[3]
Die Bürger wussten damit nicht umzugehen und empfanden die Wahrheit als
Provokation .
Fast wie eine Rechtfertigung klingt Schallücks Dogma:
„Kunst ist Provokation…Literatur (ist) Kunst (und sie muss)
hervorlocken aus…Stumpfheit
und Gleichgültigkeit.[4]
In seinem Roman Engelbert Reineke denkt er sich eine Stadt aus,
die er Niederhagen nennt und die in der Verblendung, Verdrängung und
Vertuschung nach der Nazi-Zeit weitermacht, in einer Lebenslüge, wie
Schallück es sieht, dahindämmert im Lindenkranz der Promenade“.
Damit konnte nur Warendorf gemeint sein – und diese Geschichte
konnte nicht gut ausgehen!
[1] Paul Schallück (zitiert als P.S.),
Engelbert Reineke, Frankfurt (Fischer) 1959, S. 21
[2] P.S., Im Joche des Pedanten, in:
Warendorfer Schriften, Bd 13-15 (1985), S.
185
[3] P.S., Moment mal! Köln (Nyland) 2003,
hrsg. v. Walter Gödden, 4.
Umschlagseite
[4] P.S. Anmaßung, in: Moment mal! (s. Anm.
3), S.10
Schallück machte keinen Hehl daraus, dass er seine Heimatstadt
zum Vorbild für Niederhagen genommen hat.
Es war auch nicht zu überlesen:
Familiennamen wie Sondermann, Bettenbühl, Lepper oder
Steltenkamp kommen Ihnen sicherlich bekannt vor. Die Badeanstalt, das
Kriegerdenkmal, das Kloster haben die Älteren noch gekannt, die
Promenade umsäumt heute noch die Stadt und wird im Roman immer wieder
erwähnt.
Zunächst scheint es so, dass der Erzähler, den man mit dem
Autor Schallück zwar nicht gleichsetzen, aber doch in seine Nähe bringen
muss, nichts Gutes über die Stadt und ihre Bürger zu sagen hat.
Eine längere Passage aus „Engelbert Reineke“ zeigt das:
Die Stadt war dem Untergang …dem Blut und Tod entkommen,
„vielleicht aus der Hand eines Unsichtbaren…
Aber nicht deshalb, weil etwa die Männer und Frauen des Ortes
besser denn andernorts erkannt hätten die Zeit, darinnen sie heimgesucht
waren. Und wohl auch nicht deshalb, weil sie … einmütig unter den
Schutzmantel der Madonna (sich) gestellt hätten… Und auch nicht deshalb
verschont, weil sie die Verwirrungen in ihren Köpfen und Herzen als
etwas Unausweichliches, als das Schicksal einer gemeinsamen Schande
ertragen hätten … Wenn sie Augen und Ohren, Herzen und Poren aufgemacht
hätten, wenn sie es nur gewollt hätten…“ hätten sie das
„Schindersystem, die Greuel und Schandtaten“ erkennen können.
„Vor einen Wagen haben sie sich spannen lassen und Ochsen und
Wagen geputzt und bekränzt zum Kirchweihfest einer neuen Religion. Und
das braune Kalb haben sie umtanzt…und gesungen.“[1]
Im Roman wird die Synagoge angesteckt, Engelbert aber sieht mit
Entsetzen, dass die Männer der Feuerwehr „ihre Schläuche bereit hielten,
aber sonst nichts taten. Sie rauchten dabei schweigend ihre
Zigaretten“.
[2]
Als vor einigen Jahren bei einer Stadtführung diese Szene
vorgelesen wurde, kam von einem älteren Zuhörer empörter Protest:
„In Warendorf hat keine Synagoge gebrannt!“
Wollte er nur das sagen? Steckte dahinter nicht die Meinung:
„Alles Lüge, was Schallück da schreibt!“
Literatur schafft eine eigene Welt, die aber in sich stimmig
und der Wahrheit verpflichtet ist. Die Synagoge in Warendorf ist nur
deshalb verschont worden, weil mit ihr die ganze Altstadt in Flammen
aufgegangen wäre. In Niederhagen lässt Schallück sie brennen, weil dies
zur Haltung der Bürger passte und stimmig war.
„Die Mauern des kleinbürgerlichen Hauses, das einst die
Synagoge beherbergt hatte, waren zur Hälfte stehen geblieben. Der
Bauherr hatte eine untadelige Fassade davorgesetzt“
[3]-
und „die alten Fachwerkhäuser (werden) frisch gekalkt, damit der
Traum beständig (bleibt)“.
[4]
… eindrucksvolle Bilder für eine auf alten
Denkwegen dahindämmernde Gesellschaft.
Heinrich Böll, Schallücks literarischer Freund, wurde nach dem
Krieg einmal gefragt:
„Was unterscheidet die Menschen hier eigentlich von denen im Jahre
1933?“ Er antwortete:
„Natürlich nichts!... Es sei denn, „ es geht ihnen
wirtschaftlich besser“.
[5]
Niederhagen - Die Ausnahmen
In Warendorf las man 1959 dies als Verurteilung der gesamten
Bürgerschaft. Das Entsetzen war vielleicht berechtigt, denn die
Guten sind in der Minderheit. Zudem setzte man sie mit den lebenden
Personen, die für Schallück die Romanvorlagen abgaben, gleich. In der
neben dem Ich-Erzähler wichtigsten Figur im Roman, dem Studienrat
Beileibenicht, sieht man Jans Lübbers, der wegen seiner aus dem
bürgerlichen Rahmen fallenden Lebensweise nicht ganz ernstgenommen wird.
Andere Personen, die die gute Seite verkörpern, bleiben im Roman schwach
und ohne nachhaltige Wirkung.
So bleibt beim Leser der Eindruck haften, ein ganzer Ort tanzt
mit wenigen Ausnahmen um das Goldene Kalb und hat sich vor den braunen
Karren spannen lassen.
Theodor Storm beschreibt in seinem Gedicht „Die Stadt“ seinen
Heimatort Husum. Er sieht die Öde der Landschaft, die graue Atmosphäre
der seitab liegenden Hafenstadt, den schweren Nebel , der die Dächer
drückt. Mit dem unscheinbaren Wörtchen „doch“ wird aber eine Wende
eingeleitet:
„Doch hängt mein ganzes Herz an dir“.
[6]
Haben die Warendorfer nicht gespürt, dass in Schallücks Roman
eine heimliche Liebe zur Stadt, „die ihn geboren und erzogen hat“
[7]
- so lässt er Engelbert Reineke sprechen – zu finden ist? Ein
deutliches „ Doch hängt mein ganzes Herz an dir!“?
An der Stadt, „wie eine winzige Insel: hingebreitet noch immer
in den Wiesen, bis zum Fluss hin, wie vor Jahrhunderten, umgürtet von
der Lindenpromenade“?
[8]
„Das Städtchen“ hat für ihn – für den Verfasser ebenso wie für
Engelbert! – „eine Herzkammer… wo die beiden Hauptverkehrsstraßen sich
kreuzen und vermischen.“
[9] Er lebt in der Stadt und die Stadt lebt für ihn.
Ihre Promenade „im Duft der Linden“ zieht sich wie ein
Leitmotiv durch den Roman. Sie beschreibt einen Bogen, „eine sanfte
Umarmung unseres Städtchens“
[10] und scheint auch ihn umarmen
und schützen zu wollen.
Ihre duftenden Linden kennen ihn genauso wie die Straßen des
Städtchens und des Schulhofes ihn kennen als den Sohn des Lehrers, der
sich gegen den Trend stemmt.
Haben die Leser diese Heimatliebe nicht erspürt, nicht das
Verlangen des Autors und seines „Stellvertreters“ Engelbert
nachvollziehen können, in dieser Stadt angenommen zu werden und Freunde
zu finden?
Doch ihre Stadt, „der schlecht gelüftete Provinzkäfig“
[11] , kann dies nicht leisten und der Wunsch Engelberts,
Siegfried, den Sohn des von den Nazis eingesetzten Schulleiters zum
Freund zu gewinnen, bleibt unerfüllt.
„Und ich wünschte, Siegfried …
…
Und ins ruhige Waser gelangen.“
[12]
Das schrieb Paul Schallück vor über 60 Jahren. Wir haben ihm zu
danken, dass er die Warendorf-Atmosphäre, „so heimelig sie sein mochte,
durch geistige Ideen belebt hat“.
[13]
[1] P.S., S. 47
[2] P.S., S. 67
[3] P.S., S. 65
[4] P.S., S. 51
[5] Heinrich Böll, Erzählungen, …;Köln
(K.u.W.) 1961, S. 429
[7] P.S., S. 41
[8] P.S. S.51
[9] P.S. S. 113
[10] P.S. S. 13
[11] P.S. S. 53
[12] P.S. S.53
[13] Wir Zauberlehrlinge, Texte von Paul
Schallück …, hrsg. v.
Klaus Gruhn, Warendorf
/Schnell), S. 65
Die Rede von Klaus Gruhn zum 100. Geburtstag Paul Schallücks lesen Sie hier