Gedenkveranstaltung des Heimatvereins Warendorf zum 100. Geburtstag von Paul Schallück
17. Juni 1922 – 29. Februar 1976
Vortrag von Oberstudiendirektor Klaus Gruhn


Klaus Gruhn (links) und Norbert Funken (rechts)

Am 17. Junli 1922 wurde Paul Schallück als jüngstes von drei Kindern des Buchdruckers Heinrich Schallück und seiner Frau Olga Alexandrowna Nowikowna in Warendorf geboren. Im Alter von nur 53 Jahren starb er in Köln am 29. Februar 1976. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gehörte er zu den herausragenden Autoren der jungen Bundesrepublik Deutschland, und seine Stimme blieb bis zu seinem Tod im Bereich der Prosa und Lyrik, der Essayistik und des Feuilletons beachtet.

Paul Schallück bezeichnete die Verwundbarkeit als ein Grundmotiv seines Lebens und Schreibens. Der Vater hatte nach dem Ersten Weltkrieg von einer in jeder Hinsicht abenteuerlichen Flucht aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien durch asiatische Länder den Indischen Ozean und das Mittelmeer seine junge russische Frau mit in die wenig verständnisvolle westfälische Heimat gebracht. Er war Drucker in dem Traditionsverlag von Carl Leopold, im Verlag Schnell also. Der Sohn Paul wurde 1935 Schüler im Herz-Jesu Missionshaus in Boppard und danach in Hiltrup bei Münster, um selbst Missionar zu werden. Als die Schule der Patres 1940 von den Nationalsozialisten geschlossen wurde, kam er, wie er es formulierte, „als Fremder an das Laurentianum“, also an die Traditionsschule seiner Heimatstadt. Sein autobiografisches Zeugnis davon erschien unter dem Titel „Meine Monate am Laurentianum“  1979 in der Festschrift der Schule „Von der Lateinschule zum Gymnasium Laurentianum 1329-1979“.

Als erster Schüler seiner Klasse wurde Paul Schallück noch 1941 zum Kriegsdienst einberufen. Beim Rückzug der deutschen Truppen verwundete ihn 1944 am Pont Neuf in Paris die Kugel eines Partisanen schwer. Seine Erzählung „Am Ufer der Seine“ schildert 1955 diese Augenblicke. Fortan wird sein Hinken Symbol für das Schicksal seiner Generation und die Verwundbarkeit des Menschen. Dass Paul Schallück einige Jahre später in Paris die Ehe mit einer Französin einging, weist vor diesem Hintergrund ebenfalls über die persönliche Lebensentscheidung hinaus auf einen hoffnungsvolleren Neubeginn.

Sein Erstlingsroman 1951 trug den Titel „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Mit diesem Roman und den danach in enger Folge erscheinenden Kurzgeschichten und Erzählungen traf Schallück den Nerv der Zeit. Der Roman spielt in einer Studentenclique im Nachkriegsmilieu einer deutschen Universitätsstadt und ist insofern ein früher Typus des Campusromans. Er erinnert auch an Ernest Hemingways Schilderungen einer „verlorenen Generation“. In der enttäuschten idealistischen Hauptfigur Thomas und dem mehrfach gespiegelten Motiv der Verwundung findet man autobiographische Einfärbungen, ebenso wie in der Studentenbude, die sein damaliger Freund Engelbert Schücking als „Matratzengruft“ geschildert hat.

Die folgenden Romane, „Ankunft null Uhr zwölf“ und „Die unsichtbare Pforte“ können wir hier nur erwähnen. Sie zeichnen in dunklen Grautönen ein Bild des deutschen Kriegs- und Nachkriegspanoramas in Schicksalen einer jungen Generation. Nur erwähnen können wir auch die öffentlichen Ehrungen, die Schallück zuteil wurden, nachdem er 1947 Mitglied der „Gruppe 47“ geworden war. 1953 wurde er Preisträger der Zuckmayer-Stiftung, 1955 erhielt er den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis und 1973 schließlich den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund. Schallücks Stimme und Urteil gewannen auch über Zeitschriftenessays, über die Kulturredaktion des WDR und seine Tätigkeit als Chefredakteur von „Dokumente. Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit“ Gewicht. Im Anschluss an die Verleihung des Droste-Preises an Schallück entwickelte sich 1956 eine heftige öffentliche Polemik um das Westfälische in seinem Werk und um den Begriff der Heimatliteratur. Als 1965 seine Satire „Warendorfer Pferde“ in der Anthologie „Atlas. Zusammengestellt von deutschen Autoren“ erschien, kam es auch zu einer öffentlichen Kontroverse um Paul Schallück hier in seiner Heimatstadt Warendorf.

Wir aber wollen einen etwas genaueren Blick auf sein Hauptwerk werfen. Es ist dies der Roman „Engelbert Reineke“, ein so genannter „Schlüsselroman“, dessen Handlungsort und Hauptfiguren auf reale Ereignisse, Orte und Personen  zurückzuführen sind, in unserem Fall auf Warendorf. Die Erstveröffentlichung im Jahre 1959 als Taschenbuch in einer Auflage von 40.000 Exemplaren durch den S. Fischer-Verlag war ein Novum in der Taschenbuchgeschichte.  Sie erfolgte in der erklärten Absicht des Verlages, Verdrängungsprozessen von Tätern und Mitläufern des Nationalsozialismus entgegenzuwirken. Schon dadurch wurde er auch zu einem Schlüsselwerk der Vergangenheitsbewältigung in Bezug auf die Erfahrungen und inneren Verwüstungen der Menschen im Dritten Reich. Das Echo und die Wirkung des Romans im In- und Ausland waren beachtlich. In den folgenden fünf Jahren wurde er in sechs Sprachen übersetzt, und zur Bewertung des Echos gehört auch die Tatsache, dass er im Umfeld der ebenfalls 1959 erschienenen Romane „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „Billard um halb zehn“ von Schallücks Schriftstellerfreund Heinrich Böll erfolgte.

Die Romangegenwart umfasst einen Tag des Jahres 1956 im Leben des jungen Studienassessors Engelbert Reineke. Er ist auf Wunsch der Mutter das Gymnasium seiner Heimatstadt Niederhagen zurückgekehrt, wo auch sein Vater Leopold, den die Schüler „Beileibenicht“ nannten, tätig war. Er wurde, von Kollegen denunziert, ins KZ Buchenwald deportiert und kam dort ums Leben. Engelbert muss erfahren, dass er im Kollegium und in der Stadt als eine „wandelnde Vergangenheit“ und ein „Gewissensbiss“ betrachtet wird. Er könnte aus Niederhagen in ein florierendes Industrieunternehmen fliehen, entscheidet sich aber nach inneren Kämpfen zu bleiben und damit dem Vergessen und Verdrängen zu widerstehen. Episodenhafte Rückblenden erhellen die Vergangenheit und fügen sich kaleidoskopartig zu Bildern menschlicher Verhaltensweisen und gesellschaftlich politischer Zustände im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit zusammen. Sie führen zur Aufdeckung von Wahrheit und Schuld.  Niederhagen ist, das offenbaren viele Details der Handlung und Ortsbeschreibungen, unsere Stadt Warendorf. Zahlreiche farbkräftige Szenen des 15 Kapitel umfassenden Romans ereignen sich „in dem unversehrten, rötlichen und nun schon fast 100-jährigen Gemäuer unserer Schule“. Das war das alte Laurentianum an der Freckenhorster Straße, das ist heute der „Altes Lehrerseminar“ genannte Sitz der Volkshochschule, das ist nicht zuletzt die ehemalige Aula der Schule.

Die Erinnerungsbilder Engelberts beginnen mit der Einführung des neuen Direktors an der alten Schule. Wer mit der Geschichte des Laurentianum vertraut ist, erkennt darin unschwer den tatsächlichen Direktorenwechsel im Kriegsjahr 1943 zu einem nationalsozialistischen Schulleiter, in der Aula des Laurentianum stattfand. Beileibenicht, alias Jans Lübbers, ist von den Kollegen zum Begrüßungsredner ausgewählt worden. Er liefert eine wortspielerisch um den Namen Sondermann angesiedelte Laudatio ab und deckt ironisierend den Widerspruch zwischen der schweren Kriegszeit und dem sicheren Heimatseinsatz des als soldatische Frontkämpfer auftretenden Direktor auf.

Text „Engelbert Reineke“, S. 14/15:

„Der Fanfarenzug hatte den Einmarsch geschmettert…“

Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzudecken, Wahrheit und Lüge unterscheidbar zu machen, das Leben in einem diktatorischen Regime aufzuhellen, dass charakterisiert auf vielfältige Weise Schallücks Verfahren als Schriftsteller. Das gilt auch für die Schilderung von vier Schulstunden, die in das Gefüge des Romans eingebunden sind. In einer Stunde geht es um den Kernsatz aus Schillers Drama Don Carlos, die Forderung des Marquis Prosa „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“, eine andere Stunde hat Friedrich den Großen zum Thema. Ihn setzt Beileibenicht ebenso überraschend wie unangreifbar zu Hitler in Kontrast. Einmal werden wir in eine Sportstunde geführt, in der das im Dritten Reich in der Schule eingeführte Boxen praktiziert werden muss. Und schließlich werden wir in eine Deutschstunde geführt, in der Verse Heinrich Heines, eines so genannten „verfemten“ und für die Unterrichtsdurchnahme verbotenen Dichters vorgestellt werden.

Text „Engelbeert Reinke“, S. 129ff.:

„Beileibenicht begann einen Verbotenen, den Dichter Heinrich Heine, zu behandeln…“

Nun könnte man sagen, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, wie sie in Schallücks Roman in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgte und im darauf folgenden Jahrzehnt im politischen Alltag erbittert ausgefochten wurde, heute in eine gewisse historische Ferne gerückt sei. Aber wir sollten bedenken, dass Handlung und Charaktere des Romans Engelbert Reineke Modellcharakter haben. Max Frisch sagte zu seinem 1961, also im gleichen Zeitraum erschienenen Drama Andorra: „Andorra ist der Name für ein Modell“. Wenn wir den Handlungsort Niederhagen und seine alte Schule sowie die Figuren als modellhaft auffassen, heißt das, dass in dem Roman im verkleinerten oder vergrößerten Maßstab Abbilder und wesentliche Charakteristika zum Zwecke des Erkenntnisgewinns sichtbar werden können. Das lässt den Roman Engelbert Reineke aktuell bleiben. Jeder der den Roman nach dem Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung in Deutschland und Osteuropa 1989/ 90 unter der Perspektive „Engelbert Reineke nach der Wende neu gelesen“ zur Hand nahm, konnte erkennen, dass im Deutschland des 20. Jahrhunderts ein weiteres Mal eine ebenso notwendige wie von vielen abgelehnte Auseinandersetzung mit dem Leben und Verhalten unter einem totalitären Regime nötig wurde. Die kleine Welt des westfälischen Städtchens Niederhagen im Roman spiegelt also Verhaltensweisen und Konflikte in einem beliebigen Ort Deutschlands, ja in jedem totalitär beherrschten Land, wie wir zur Zeit an den schrecklichen Verzerrungen der Wirklichkeit in Russland wiederum erkennen können. Der Text vergegenwärtigt in anschaulichen Bildern allgemeinere Erfahrungen eines Zeitalters der Ideologien und Ersatzreligionen. Er veranschaulicht wie Opportunismus und Feigheit, Intoleranz und intellektuelles wie moralisches Versagen von jedem totalitären System befördert und instrumentalisiert werden.

Lassen Sie mich noch einmal kurz zu Paul Schallücks letzter Lebensphase zurückkehren. Köln war sein Lebensmittelpunkt geworden. Die Stadt bildet auch den Handlungsraum seines letzten, als Trilogie geplanten Romans „Don Quichotte in Köln“, der 1967 erschien. Gewissermaßen als Abgesang seiner bohrenden Wahrheitssuche wie seiner immer präsent gebliebenen Neigung zu dramatischen Gestaltungen können wir das in seinem Todesjahr 1976 erschienene Oratorium „Countdown zum Paradies“ lesen. Eine als Chor auftretenden Masse beherrscht die zwölf Bilder in Exzessen einer dem Konsum und kollektiver Verdummung verfallenen Gesellschaft. Das Horrorszenario gipfelt in einem Tanz um den Götzen Fernsehen, dass moderne goldene Kalb.

Wir können Paul Schallück heute als Zeugen eines literarischen Neubeginns in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg lesen. Er ging weniger von sprachlich-formalen Experimenten aus, als vielmehr von zentralen Fragen nach Wahrheit und Lüge im gesellschaftlichen wie im persönlichen Leben. Wir können Schallück aber auch als einen Sprach- und Charakterisierungskünstler lesen, der zu befreiendem Lachen über unvollkommene Wirklichkeiten verhilft.

Klaus Gruhn   2022

 

Die Rede von Norbert Funken zum 100. Geburtstag von Paul Schallück lesen Sie hier

 

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