Das Gadem am Zuckertimpen 4 – ein „Kleine-Leute-Haus“
Ein Leitfaden, nicht nur für Kinder
von Mechtild Wolff (1. 2. 2024)

Wenn man vor dem Gadem steht, hat man nicht den Eindruck, vor einem Museum zu stehen. Ein Museum, das ist ein Schloss, eine Burg oder doch wenigstens ein prächtiges Haus. In Warendorf ist das etwas anders. Wir haben hier kein zentrales Heimatmuseum im üblichen Sinne, in dem alle Schätze ausgestellt werden, die unsere Stadt besitzt. Warendorf hat ein „Dezentrales Stadtmuseum“, das aus fünf Museumshäusern besteht, in denen das Alltagsleben in einem kleinen Landstädtchen gezeigt wird, in denen gezeigt wird, wie die Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Lebenssituationen gelebt haben.

Dazu gehört das Rathaus am Marktplatz mit dem historischen Ratssaal – das hochherrschaftliche Haus Klosterstraße 7 mit den prächtigen handgedruckten Bildtapeten, das von dem preußischen Hof Dr. Katzenberger erbaut wurde – das Fabrikantenhaus Bispinck an der Münsterstraße, in dem eine Fabrikantenfamilie wohnte – das Torschreiberhaus mit dem Büro und der Wohnung des Torschreibers – und das Gadem am Zuckertimpen, in dem man das Leben der „einfachen Menschen“ erleben kann.

All diese Museumshäuser kann man jeden Sonntag von 15-17 Uhr kostenfrei besichtigen. Man erkennt sie an der kleinen Warendorf-Fahne.

Das Gadem am Zuckertimpen Nr. 4
von Mechtild Wolff (1. 2. 2024)

Ein Gadem ist ein „Kleine-Leute-Haus“, meistens in einer Seitenstraße, im Hinterhof oder am Stadtrand gelegen.  Oft wurde es von Kaufleuten als Altenteil erbaut oder als Mietobjekt zur Altersversorgung. In einem Miet-Gadem - es gab früher 360 Gademe in Warendorf, heute sind es noch ca. 60 - wohnten einfache Handwerker, Tagelöhner und auch einfache städtische Beamte, wie z.B. der Lampenanzünder, der Turmbläser oder der Nachtwächter, aber auch Witwen und unverheiratete Frauen, also Menschen, die zwar nicht arm, aber auch nicht zur wohlhabenden Bürgerschaft gehörten. Interessant ist, dass damals auch Chirurgen und Notare zu  dieser Bevölkerungsschicht gehörten und in Miet-Gademen wohnten. In diesen kleinen Häuschen lebten oft mehr als 10 Personen, mit ihrem Schwein, ihrer Ziege, den Hühnern und dem Hund und der Katze. Die Tiere kamen aber nur abends ins Haus, über Tag wurden sie auf die Straße getrieben und ernährten sich von den Abfällen, die auf die Straße geworfen wurden. Eine Müllabfuhr gab es damals noch nicht, darum hatte jedes Haus einen Misthaufen vor der Tür, auf den alles, was man nicht mehr brauchte, geworfen wurde. Schmutziges Wasser kippte die Hausfrau nach dem Spülen und nach dem Waschen in die „Gosse“. Das tat jeder so, darum entstand hier ein kleines Rinnsal. Man verbrauchte aber längst nicht so viel Wasser wie heute, denn alles Wasser musste mit dem Eimer von der Pumpe geholt werden. Fließendes Wasser gab es in Warendorf erst ab 1907, hier in diesem Gadem gab es auch 1925 noch keinen Wasseranschluss.

Gepflastert waren die Straßen damals noch nicht, bei Trockenheit staubte es hier sehr und bei Regen war es noch viel schlimmer, dann verwandelte sich die Straße in Schlamm und Matsch und war kaum passierbar.

Im 18. Jahrhundert wurden die Gademe zunehmend von Kleinbürgern erworben, so auch das Gadem Zuckertimpen 4. Heute wird hier gezeigt, wie das Wohnen in den 1920er Jahren im Gadem ausgesehen haben könnte.

1925 war der Fuhrmann Heinrich Rolf (*1879) der Besitzer dieses kleinen Häuschens. Er wohnte hier mit seiner Frau Elisabeth und seinen drei Kindern Paul, Hedwig und Robert. Fuhrmann Rolf verdiente sein Geld mit dem Transport von Waren, vielleicht mit einem Pferdewagen oder auch mit einem Handwagen oder einer Schubkarre. Damit konnte er den Lebensunterhalt seiner Familie sichern und sich dieses kleine Häuschen kaufen. Aber das Geld reichte nicht, um allein in dem Haus zu wohnen, darum hatte er einen Einlieger, also eine Familie, die mit ihm das Haus bewohnte. Das war der Lokomotivputzer August Droste mit seiner Frau und zwei Kindern.

Im Gadem rechts von der Eingangstür liegt die „Gute Stube“ der Familie des Hauseigentümers Rolf. Sie wurde nur zu besonderen Gelegenheiten geheizt, zu Weihnachten, zu Ostern, zu Familienfesten und wenn der Pastor zu Besuch kam. Die Gardinen in der guten Stube sind besonders elegant. Sie wurden aus einem ehemaligen Bettüberwurf genäht, der in einer wohlhabenderen Kaufmannsfamilie als Tagesdecke gedient hatte. Ein gutes Beispiel für die Weiterverwendung von Textilien.

Das Alltagsleben der Hausbesitzerfamilie fand in der kleinen Wohnstube statt. Die Familie des Fuhrmanns saß um den Tisch herum und wer Glück hatte, bekam den gemütlichen Platz auf dem alten Ledersofa. Hier machten die Kinder ihre „Schularbeiten“, hier stopfte die Mutter die Socken und der Vater rauchte nach Feierabend sein Pfeifchen.

Der Mieter August Droste hatte vorne links seine Wohnstube, in der das tägliche Leben stattfand. Auf dem kleinen Kanonenofen konnte auch gekocht werden, aber die Mahlzeiten wurden sicher auf dem großen Herd in der Küche zubereitet. Im Obergeschoss hatte die Familie ihre Schlafkammer, in der sie alle zusammen in einem Zimmer schliefen. Die Kinder teilten sich ein Bett.

In der Flurküche fällt der erste Blick auf den Herd, auch Kochmaschine genannt, der mit Holz oder Kohle beheizt wurde. Hier kochten die Besitzerfamilie Rolf und sicher auch der Einlieger Droste - der Herd war das Zentrum des Hauses. In dem großen Küchenschrank befanden sich alle Lebensmittel. Im Brotkasten sind noch heute „Knabbeln“ zu finden, denn Vater aß morgens „Kaffee mit Beschüte“.

Links neben dem Küchenschrank hängt ein „Ewiges Handtuch“, ein Gerstenkornhandtuch, das mit einem Spitzendurchsatz aneinander gehäkelt und über einen Rundstab gehängt wurde. Hier suchte sich jeder eine trockene Stelle zum Abtrocknen der Hände.

 

Die Vorratskammer

Neben dem Küchenschrank ist der Vorrat und wenn man die Bodenklappe öffnet, kann man eine kleine Treppe in eine weitere Vorratskammer heruntergehen. Sie liegt etwas tiefer, damit die Vorräte kühl bleiben. Im Vorratsraum sieht man den Stolz der Hausfrau: viele Einmachgläser mit Birnen, Pflaumen, Pfirsichen und Stachelbeeren, dazu die Marmeladengläser und die Schmalztöpfe. Das Pökelfass mit den Schnibbelbohnen und das Sauerkrautfass durften auch nicht fehlen. In einem braunen Tontopf wurden die Eier in Wasserglas eingelegt, damit auch in der eierarmen Zeit ein leckerer Kuchen gebacken werden konnte. Möhren und Kartoffeln kamen in die Miete im kleinen Garten hinter dem Haus. So hatte die Hausfrau das gute Gefühl, gut für den Winter vorgesorgt zu haben.  Ja, ein gut gefüllter Vorratskeller war der Stolz der Hausfrau.

Früher, und das ist noch gar nicht so lange her, kaufte die Hausfrau nur das, was sie nicht selbst herstellen konnte: Salz, Gewürze, Mehl, Hering und beim Milchmann Butter und Käse und die Milch in der guten alten Milchdüppe. Wer es sich leisten konnte, kaufte gelegentlich Fleisch beim Metzger oder Fisch im Fischgeschäft. Zu Weihnachten wurden Nüsse und Mandeln und Kardamom im Kolonialwarenladen gekauft - diese Waren kamen aus den Kolonien.

Im Stall hinter der Spülküche wurde ein Schwein fettgefüttert. Vor Weihnachten kamen der Schlachter und die „Wurstefrau“ und endlich gab es Fleisch im Überfluss. Aber auch das Fleisch musste lange reichen, es wurde in Gläser eingekocht, eingepökelt und zu Würsten verarbeitet, die mit dem Schinken zusammen im Rauchfang geräuchert wurden, um haltbar gemacht zu werden. Der Flomen wurde ausgelassen, so wurden auch die Schmalztöpfe wieder gefüllt.

Fast jeder Bürger hatte damals einen Kamp, also einen Acker oder einen Garten vor den Toren der Stadt. Da pflanzte man Gemüse und Obst, Kartoffeln und Kräuter an, pflegte den Garten über den Sommer und erntete im Herbst.

 

Die Waschküche

Geht man links am Herd vorbei, kommt man in die Waschküche. Hier finden sich alle Gerätschaften, die um 1925 zum Waschen gebraucht wurden, Kernseife, Sand und Soda, Rubbelbrett und Stampfer, Eimer, Kannen und die Waschbütt. Auf der Wasserbank standen die Eimer, die an der Pumpe mit Wasser gefüllt worden waren, denn dieses Haus hatte ja 1925 noch kein fließendes Wasser, jeder Eimer Wasser musste von der Pumpe geholt werden, eine sehr mühsame Arbeit. Darum ging man zum Waschen und Spülen der „Großen Wäsche“ gern an die Ems zum Waschbrett. Zum Trocknen wurde die Wäsche im Garten aufgehängt. In der Ecke der Waschküche hängt eine Klammerschürze mit dem guten Wunsch „Schön Wetter“ - sie ist gefüllt mit schönen, oft noch handgeschnitzten Holzwäscheklammern.

Die fertige Wäsche kam in einen Wäschekorb, der mit einem bestickten „Rolltuch“ abgedeckt war. So wurde die saubere Wäsche geschützt, wenn sie auf Rollen gewickelt zum Kaltmangeln gebracht wurde. An der Wand in der Waschküche hängt ein Wandschoner mit dem Spruch: „Wie alles in der Küche blank, so sei es auch die Wasserbank.“ Hinter diesen Tüchern verbarg man oft stockfleckige oder unansehnliche Wandflächen.

Die Schlafräume

Vom Flur aus geht eine enge Treppe hoch zu den Schlafräumen. Vorne befindet sich das Schlafzimmer der Eigentümerfamilie Rolf. Auf den Betten liegen warme Federbetten mit einem Leinenbezug. Im Spitzeneinsatz steht „Gute Nacht“ und „Schlafe wohl“. Ausgebreitet auf dem Bett liegt ein Männerhemd, das sowohl als Tageshemd als auch ein Nachthemd dienen konnte. Auf dem anderen Bett sieht man ein Frauennachthemd mit passender Hose, verziert mit Klöppelspitzen und Monogramm. Die dazu passende Nachtmütze, die um 1925 noch vielfach getragen wurde, hängt auf dem Bettpfosten. Am Fußende steht die Babywiege für den jüngsten Spross der Familie.

Elternschlafzimmer Mantelstock Kinderzimmer

Im Leinenschrank präsentiert sich der ganze Stolz der Hausfrau: die Wäscheaussteuer mit Bettwäsche, Tischwäsche, Handtüchern, Überhandtüchern und Schürzen. Am Schrank hängt der Gehrock, das Kleidungsstück für festliche Anlässe oder den sonntäglichen Kirchgang. Außerdem sieht man leinene Männerhemden und eine tailiierte Jacke, „Taille“ genannt mit Streifen im Blaudruckverfahren. Das Kinderzimmer befindet sich neben der Bodentreppe. Hier schliefen die zwei älteren Kinder der Besitzerfamilie. Auf den Stühlen sieht man eine geteilte Unterhose für Mädchen und viele andere, auch indigogefärbte Leinen-Unterwäsche. Auch der Schutzengel darf nicht fehlen, hier ist er gestickt auf einem Wandbehang.

Im nächsten Raum schlief die Mieterfamilie Droste: Vater, Mutter und die zwei Kinder, die sich ein Bett teilten. Die Hauswäsche und die Kleidungsstücke wurden in einer Truhe aufbewahrt. Kleider, die nicht gefaltet werden sollten, hingen im Mantelstock in der Ecke.

Die Kammer direkt links an der Treppe mit der besonders schön gestalteten Glastür bewohnte die unverheiratete Tante Lucie. Sie arbeitete im Krankenhaus und nähte gerne, darum stand in der guten Stube auch die hochmoderne Nähmaschine. Auf der blauseidenen Steppdecke des Bettes, liegt eine Tasche mit  Spitzenbesatz und dem Schriftzug „Gute Nacht“, in der tagsüber die Nachtwäsche und nachts die Tageswäsche aufbewahrt wurden. Die Bretter des Wäscheschrankes tragen den so gerne verwendeten gestickten Spruch:

„Geblümt im Sommerwinde, gebleicht auf grüner Au,
liegt still es hier im Spinde, als Stolz der deutschen Frau“.

 

Die Kostgänger

Ein schöner Nebenverdienst war auch das Vermieten von Betten an Kostgänger. Das waren meistens junge Leute, oft sogar Schüler des Gymnasium Laurentianum, die bei der Familie Rolf in Kost und Logis waren. Sie hatten ihr Bett wahrscheinlich in dem mittleren Zimmer. Oft teilten sich mehrere junge Leute ein Zimmer. Sie aßen als „Kostgänger“ mit am Tisch der Familie.

In jedem der Schlafräume findet sich noch eine Vielfalt an Kleidungsstücken und insbesondere die „Unaussprechlichen“, die Unterhosen mit langen, geteilten Beinen, die Klapphosen und die feinen Hosen mit Rüschen und Spitzen.

Natürlich hat jeder Schlafraum sein „Waschlampet“, die Waschschüssel mit der Kanne. Auch das Nachttöpfchen unter dem Bett und der bequeme Nachstuhl neben dem Bett dürfen nicht fehlen.

 

Das Plumpsklo

Warum das Nachtgeschirr im Schlafzimmer so wichtig war, begreift der Besucher schnell, wenn er den weiten Weg durch den Flur, die Wasch- und Spülküche, den kleinen Stall, wo das Schweinchen gemästet wurde, bis in den Hof gegangen ist. Dort befindet sich die Tür mit dem Herzchen, hinter der sich ein echtes Plumpsklo verbirgt, mit fein säuberlich geschnittenem Zeitungspapier für besondere Zwecke, aufgespießt auf einem festen Drahthaken.

Im Stall wurde das Schweinchen fett gefüttert, Weihnachten überlebte es  meistens nicht. Hier stehen auch der Bollerwagen und die Acker- und Gartengeräte, hier hängen eine blaue Arbeitsschürze aus indigogefärbtem Leinen und der „Schlapphut“, der bei der Feld- und Erntearbeit von den Frauen getragen wurde. Er schütze gegen die Sonne und den Staub. Der mit Peddigrohr versteifte Rand sorgte für einen luftigen Abstand von Kopf und Nacken.

 

Der Garten

All diese Gerätschaften werden gebraucht für die Pflege des kleinen Gartens, in dem natürlich auch ein paar Hühner herumlaufen. Darum ist das Beet mit den Blumen auch eingezäunt. Eine gute Hausfrau hatte immer frische Blumen auf dem Tisch stehen, die sie hier aus dem Garten holte. An der Wand zum Nachbargarten findet man noch heute eine Vielzahl Küchenkräuter, die für jede Mahlzeit frisch gepflückt wurden. Die Hühner versorgten die Familie mit frischen Eiern und sie und das Schwein fraßen alles, was in der Küche nicht mehr gebraucht wurde - Kartoffelschalen, Möhrenschalen und Erbsenschoten, Salatblätter und alle Essensreste. Man ließ nichts verkommen!

Sonntags setzte sich die Familie gern in den Garten unter den Pflaumenbaum. Eine Ruhebank gab es auch in der Ecke an der alten Stadtmauer, ein ganz besonders schöner Platz zum Kartoffeln schälen oder für eine kurze Verschnaufpause.


Bollerwagen (Leiterwagen) zum Transport der Gartengeräte, der Ernte, etc.


Mechtild Wolff (1. 2. 2024)

 

 

 

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