„Clara Schmidt und die Frauenliste“
Warendorfer Frauen kämpfen um einen Platz im Stadtparlament
von Mechtild Wolff (5. 5. 2024)

Im Jahr 1924 gab es politische Aufregungen in Warendorf. Das Stadtparlament musste am 4. Mai neu gewählt werden. Eigentlich sollte alles sehr einvernehmlich vor sich gehen. Die Zentrumspartei hatte sich mit den anderen Parteien, mit der Christlichen Arbeiterschaft, der Handwerkerinnung, dem Gewerbeverein, dem Beamtenverein und den landwirtschaftlichen Ortsvereinen auf eine „Bürgerliche Verständigungsliste“ geeinigt. Die Listenplätze waren schnell vergeben, denn die Sitze im Stadtparlament waren von 24 auf 18 Plätze verringert worden. Auch die Warendorfer Frauen hatten sich um einen Platz auf der Liste beworben, denn seit 1918 gab es ja endlich das aktive und passive Frauenwahlrecht. Nun wollten die Frauen gern eine Vertreterin ins Stadtverordnetenkollegium entsenden. Aber keiner der Stände wollte auf seinen Sitz verzichten, so wurde den Frauen eine Absage erteilt. Doch die Warendorfer Frauen gaben sich damit nicht zufrieden und bestanden darauf, einen Platz auf der Liste zu bekommen. Sie wiesen sehr deutlich darauf hin, dass ja 50 Prozent der Wähler Frauen sind.

Alles Bitten war vergebens – sie bekamen nicht einen Platz auf der Liste..

Im neuen Emsboten schrieb Natz Gliewenkieker am 18. April in seiner Glosse: „Das Zentrum setzte sich für die Aufstellung einer Frau ein, konnte aber die Forderung nicht durchdrücken. Die Frauenkandidatur fiel, aber der Zorn der Frauen stieg, er stieg höher und höher und nun haben wir die Bescherung: In Warendorf herrscht Krieg - trotz Friedensgesellschaft. Die Frauen haben den Männern den Krieg erklärt. Ob angesichts solcher unheildrohender Entwicklung der ein oder andere Ehemann doch bedenklich wird und an Goethes Ansicht denkt: Die Frauen sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen! - Aber man wollte keine silbernen Schalen im Rathaus haben und so können die Männer auch keine goldenen Äpfel hineinlegen…“ 

Am 23. April fand im Gesellenhaus – so nannte man damals das Kolpinghaus - eine Versammlung des Frauenbundes statt, auf der Frl. Regierungsrat Dr. Laarmann einen sehr sachkundigen Vortrag über die Mitarbeit der Frau in der Gemeinde hielt. Frl. Dr. Laarmann war Dezernentin für die Wohlfahrtspflege und weibliche Jugendpflege bei der Regierung in Münster. Sie betonte in ihrem Vortrag, dass Frauen ein Recht auf Gleichberechtigung haben, das sie sich insbesondere durch ihre „Kriegsarbeit“ erworben haben. Da haben sie nämlich unverdrossen neben ihrer Arbeit im Haushalt die Arbeit der Männer mit verrichtet, in der Landwirtschaft, in der Munitionsfabrik, in den Verwaltungen, in den Lazaretten und wo auch immer Hilfe gebraucht wurde. Frauen sind für die politische Mitsprache sehr wohl befähigt und können bei den oft unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten ausgleichend und vermittelnd wirken.

Die Frauen waren sich schnell einig, dass sie nun eigene Wege gehen müssen, wenn die Männer ihren berechtigten Forderungen nicht nachgeben wollen. Die Zeit drängte, denn die Wahl zum Stadtparlament war auf den 4. Mai 1924 festgelegt, also in 11 Tagen. Nach intensiven Diskussionen beschlossen die 60-80 anwesenden Frauen der Versammlung, eine eigene Liste aufzustellen. So entstand am 23. April 1924 die erste und einzige „Frauenliste“ in Warendorf.

Sieben angesehene Bürgerfrauen nahmen „das Opfer der Kandidatur“ – so drückten sie sich aus - auf sich:

1. Frau Clara Schmidt, Landesobergerichtsratsfrau, Oststr. 39

2. Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin, Brede 13

3. Frau Theresia Kemner, Webersfrau, Petersiliengasse 2

4. Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau, Ostpromenade 6

5. Fräulein Paula Gildemeister, Telegraphen-Assistentin, Oststr. 39

6. Frau Bäckermeister Theresia Heinermann, Kirchstraße 3

7. Frau Sparkassendirektor Gertrud Becker, Lange Kesselstraße 4

Auf Platz 1 also stand Clara Schmidt, die Initiatorin der Frauenliste.
Wer war diese Clara Schmidt?

Sie wurde 1874 als Clara Gertrud Maria Willebrand als jüngstes von sechs Kindern Oelde geboren. Ihr Vater Josef Ignatz Willebrand (*1829) wurde 1879, als Clara 5 Jahre alt war, als Amtsgerichtsrat Leiter des Amtsgerichts in Warendorf. Er war der Vorgänger von Wilhelm Zuhorn, den wir ja als den Gründer des Heimatvereins gut kennen. Amtsgerichtsrat Josef Willebrand kauft das Haus Oststraße 39, wo Clara mit ihren Geschwistern aufwuchs. Prägend für die junge Clara war, dass ihr Vater von 1892 bis 1908 Mitglied des Preußischen Abgeord netenhauses in Berlin war. So bekam sie schon früh einen Einblick in die große Politik.

1895 heiratete Clara den damaligen Gerichtsreferendar Edmund Schmidt, der Landesobergerichtsrat in Karlsruhe wurde. Die Ehe blieb kinderlos, das gab Clara Schmidt den Freiraum, sich für den 1903 gegründeten Kath. Deutschen Frauenbund zu engagieren. Sie gründete 1909 den ersten Zweigverein in Karlsruhe und gehörte ab 1918 dem Reichsverein des Frauenbundes an.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes Edmund zog Clara Schmidt 1920 zurück nach Warendorf, um ihren hochbetagten Eltern zur Seite zu stehen. In ihrer Heimatstadt wurde sie recht bald die rührige und ideenreiche Vorsitzende des Warendorfer Kath. Frauenbundes als Nachfolgerin von Selma Ewringmann, der Frau des Bürgermeisters Hugo Ewringmann.

Im Frauenbund wurden von Rektor Clemens Hugenroth und Studienrat Dr. Franz Rohleder staatsbürgerliche Kurse abgehalten, um den Frauen das nötige Rüstzeug zum politischen Denken und Handeln zu geben. Bei den Zusammenkünften der Frauen wurden neben politischen Themen insbesondere Mädchenschulbildung, Jugendfürsorge, Volksbildung, Kino, Armenfürsorge und Betreuung der Wöchnerinnen diskutiert. Das neue Wohlfahrtsgesetz brachte für die Städte viele neue Aufgaben. Und dabei wollten die Frauen mitreden, denn, so schrieben sie in der Zeitung: „Es gibt gewisse Dinge, wo ein Frauenzimmer schärfer sieht, als hundert Augen der Mannspersonen!“ Dafür wollten sie eine Vertreterin ins Stadtparlament entsenden. Da die Stände ihnen ja keinen Listenplatz gewährten, mussten sie dafür sorgen, dass die Frauenliste Akzeptanz in der Bevölkerung bekam.

Darum entfachten die Frauen eine rührige Propagandatätigkeit - Wahlwerbung würde man das heute nennen. In Privatwohnungen fanden Besprechungen und Versammlungen statt. Diejenigen Frauen, die über genügend Zeit verfügten und redegewandt waren, gingen in den verschiedenen Stadtteilen und in den Bauer-schaften von Haus zu Haus, um für die sieben Kandidatinnen der „Frauenliste“ zu werben. Meistens wurden sie freundlich aufgenommen. Vor allem die Hausfrauen brachten ihnen viel Verständnis entgegen. Es kam aber auch vor, dass sie vom Hausherrn angeknurrt wurden und zu hören bekamen: „Frauen gehören hinter die Kochpötte und sollen lieber auf ihre Kinder aufpassen!“

Auch die „Bürgerliche Verständigungsliste“ wurde sofort aktiv. Schon am 24.4., also am Tag nach der Begründung der „Frauenliste“ im Kolpinghaus, veröffentlichten sie zusammen mit der Zentrumspartei im Neuen Emsboten eine Erklärung, dass sie die Frauenliste nicht anerkennen, unterschrieben von den Warendorfer Pfarrern und von hochangesehenen Bürgern.

Ja, in ganz Warendorf wurde über die Kandidatur der Frauen aufgeregt gestritten. In den Zeitungen war damals viel über die Suffragetten in London und Berlin zu lesen, die für die Rechte der Frauen auf die Straße gingen. Je näher der Wahltag rückte, umso erhitzter entbrannte der Wahlkampf auch in Warendorf.

Der Stadtverordnetenvorsteher verkündete: „Solange ich im Rathaus bin, kommt kein Unterrock ins Stadtparlament!“

Je eifervoller die Frauen ihre Rechte verteidigten, umso hartnäckiger wurden die Männer. „Keine Frau soll ins Rathaus einziehen!“ Zur Bekräftigung dieses Schwurs legten drei honorige Bürger in Mimi Temmes Gastwirtschaft am Marktplatz sogar 300 Mark unter ihre Altbierpötte. Die sollten verwettet sein, falls auch nur ein Frauenzimmer ins Rathaus einzieht.

Die Kunde von den mutigen Frauen in Warendorf verbreitete sich über ganz Deutschland. Die großen Zeitungen in Köln, Hannover und Hamburg brachten lange Artikel mit den Schlagzeilen:

„ Amazonenschlacht in Warendorf!“

„Da werden Weiber zu Hyänen!“

„ Schmerz, lass nach!“

„ Frauen kämpfen um ihr Recht!“

Auch im Ausland machten die Warendorfer Frauen von sich reden. Ein Londoner Blatt titelte: „Wir beglückwünschen und grüßen die Warendorfer Suffragetten!“

Je näher die Wahl kam, umso hitziger wurde die Auseinandersetzung. Die letzten Tage und Nächte waren so zermürbend, dass manche der engagierten Frauen Angst vor ihrer eigenen Courage bekam.

Flugblätter und Wahlplakate, auf denen die Frauen lächerlich gemacht wurden, flatterten in die Häuser und wurden an Litfaßsäulen, Mauern und Bäumen angeschlagen.

Die Ehemänner wurden bedrängt, ihre Frauen an der Leine zu halten, was wiederum die Frauen herausforderte, zu erklären, sie seien Manns genug, mit ihrem Stimmzettel gegen die Männer zu kämpfen.

Spottgedichte wurden verfasst und vertont und mit Musikbegleitung und der dicken Trommel nächtens vor den Häusern der kandidierenden Frauen gesungen.

Am Tag vor der Wahl kämpften die Vertreter der Verständigungsliste in der Presse mit harten Bandagen. In den Westfälischen Nachrichten veröffentlichten sie unter dem Titel: Was gibt es …wenn die streitbare kleine Gruppe einen Sitz im Stadtverordneten-Kollegium bekommt? Mit semmelsüßen Redensarten werden die Bürger eingewickelt. Die Politik wird dann in Kaffeeklatschen fabriziert und mit Gefühl serviert werden. Gelegentlich werden auch lyrische Gedichte vorgetragen. Solche Genüsse verderben auf die Dauer den besten Magen, darum ist die gute, derbe Hausmannskost das Beste,… darum wählt jeder vernünftig Denkende, Frau und Mann, nur die „Bürgerliche Verständigungsliste“.

Oder in dem Beitrag: „Frauendämmerung“.

Warendorf steht in ganz Deutschland einzig da mit seiner Frauenliste infolge des Vorgehens einer kleinen Gruppe sich revolutionär gebärdender Frauen. Aber es dämmert allmählich, weil ihnen die Felle wegschwimmen, denn der gesunde Menschenverstand der Arbeiter, Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibenden und Beamten (Männer und Frauen) betrachtet dieses eigenmächtige Vorgehen einer kleinen Gruppe Frauen als Anmaßung und Pantoffelpolitik. Es ist selbstverständlich und klar, daß jeder recht denkende Mensch nur die „Bürgerliche  Verständigungsliste“ wählen kann.

 

Ja, diese Frauen bekamen eisigen Gegenwind und brauchten wirklich Mut!

Endlich kam der wichtige Wahltag, der 4. Mai 1924. Die Wahlbeteiligung war überwältigend. Eine fast unerträgliche Spannung herrschte in der ganzen Stadt. Es war in Warendorf üblich, dass sich an Wahlabenden die interessierten Wähler im Kolpinghaus versammelten, um die Resultate aus den Wahlbezirken telefonisch in Empfang zu nehmen. Als unübersehbar wurde, dass die Frauenliste viele Stimmen bekommen hatte, wurden die Gesichter der Gegner immer länger. Kreideweiß um die Nase stellte ein Bürger fest: „Ich glaube, die kriegen wahrhaftig eine drin!“

Das Unglaubliche geschah: Die Frauenliste bekam 782 Stimmen, das waren über 20 Prozent der Stimmen. Die ersten vier Kandidatinnen der Frauenliste konnten ins Stadtparlament einziehen:

Frau Clara Schmidt, Vorsitzende des Kath. Frauenbundes

Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin

Frau Theresia Kemner, Webersfrau

Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau

Die Mehrheit lag nach wie vor bei der Verständigungsliste des Zentrums mit 2406 Stimmen, das waren 12 Mandate. Die Sozialdemokraten bekamen wieder nur 2 Mandate (481 Stimmen). Das war ein schwerer Schock für die Ratsherren.

Am 5. Mai 1924 kommentierte der Neue Emsbote: Die Warendorfer Stadtverordnetenwahl hat weit über Stadt und Kreis Warendorf, ja über Westfalen hinaus, das Interesse weiter Kreise wachgerufen, und zwar infolge der Aufstellung einer besonderen „Frauenliste“ gegenüber den Männern. Heute kann die ganze Frauenwelt Deutschlands mit Genugtuung auf den Erfolg ihrer Warendorfer Vorkämpferinnen hinblicken.“ Dann allerdings meinte die Zeitung die Kurzlebigkeit der Frauenliste prognostizieren zu können: „Die Warendorfer Männer und Frauen werden sich bald wiederfinden, denn kein Mann in ganz Deutschland kann seine Frau so schlecht entbehren wie der Warendorfer, wenn er hinterm Altbierpott sitzt und seine Frau geduldig und liebevoll Haus und Hof bewahrt.“

Auch nach Amtsantritt in der Stadtverordnetenversammlung mussten sich die gewählten Frauen noch manche Demütigungen gefallen lassen. So wurde in der ersten Ratsversammlung nur kurz beraten. Dann erklärte der Stadtverordnetenvorsteher: „Ich schließe hiermit die Versammlung und bitte die Herren, mit mir ins Nebenzimmer zu gehen.“ Die vier Frauen waren ausgeschlossen.

Zu Fronleichnam gab es traditionell die große Stadtprozession. Jeder Ratsherr rechnete es sich zur Ehre an, hinter dem Allerheiligsten gehen zu dürfen. Nun stellte sich die bange Frage: „Sollen die Frauen bei der Prozession mit den Ratsherren gehen?“ So etwas hatte es noch nie gegeben! „Frech genug wären die ja!“ flüsterten sich einige Bürger hinter vorgehaltener Hand zu. Aber die gewählten Frauen ließen sich nicht verblüffen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Ratsherrinnen zogen ihr Schwarzseidenes an und die weißen Glacéhandschuhe und mischten sich unter die Ratsherren. Das Aufsehen und das Getuschel waren groß! Noch nie hatten so viele Zuschauer bei einer Prozession am Straßenrand gestanden.

Als bei der Einführung des neuen Bürgermeisters Rudolf Isphording und dem nachfolgenden Festessen der Oberpräsident der Provinz Westfalen Johannes Franz Gronowski aus Münster auf die vier Damen zuging und sich angeregt mit ihnen unterhielt und sogar eine der Damen zu Tisch führte, gewannen die Frauen auch bei den Ratsherren an Ansehen.

Die Gemüter beruhigten sich, die Spannung ließ nach und es kam zu einer einträchtigen und nutzbringenden Zusammenarbeit im Rathaus. Die Stadtverordneten des Zentrums zeigten sich zugängig für die Anliegen der Frauen, die ja alle aus einem zentrumsnahen Umfeld kamen. Bei der nächsten Wahl 1929 war es eine Selbstverständlichkeit, dass zwei Frauen mit auf die Wahlliste kamen, Clara Schmidt und Elisabeth Schwerbrock. Der Kampf der mutigen Frauen war beispielhaft und machte in ganz Deutschland Schule.

Clara Schmidt blieb Stadtverordnete bis 1933. Dann legte sie ihr Mandat nieder, weil sie den Nationalsozialisten nicht dienen wollte. Sie lebte bis zu ihrem Tode 1949 in Warendorf an der Oststraße 39.
2018 benannte die Stadt Warendorf auf Vorschlag des Heimatvereins eine Straße in dem neuen Baugebiet am Friedhof „Clara-Schmidt-Straße“, um die mutigen Frauen nicht zu vergessen.


Sufragetten in Berlin 1912

Mechtild Wolff

 

Quellen: Clara Schmidt: Aufzeichnungen und Zeitungsberichte

             Laura Enders: Bericht über den Wahlkampf der Frauenliste,

             Bilder:   Zeitungsberichte und Plakate: Mechtild  Wolff

             Bild: Clara Schmidt, Archiv der Altstadtfreunde

 

 

 

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