Im Jahr 1924 gab es politische Aufregungen in Warendorf. Das
Stadtparlament musste am 4. Mai neu gewählt werden. Eigentlich sollte
alles sehr einvernehmlich vor sich gehen. Die Zentrumspartei hatte sich
mit den anderen Parteien, mit der Christlichen Arbeiterschaft, der
Handwerkerinnung, dem Gewerbeverein, dem Beamtenverein und den
landwirtschaftlichen Ortsvereinen auf eine „Bürgerliche
Verständigungsliste“ geeinigt. Die Listenplätze waren schnell vergeben,
denn die Sitze im Stadtparlament waren von 24 auf 18 Plätze verringert
worden. Auch die Warendorfer Frauen hatten sich um einen Platz auf der
Liste beworben, denn seit 1918 gab es ja endlich das aktive und passive
Frauenwahlrecht. Nun wollten die Frauen gern eine Vertreterin ins
Stadtverordnetenkollegium entsenden. Aber keiner der Stände wollte auf
seinen Sitz verzichten, so wurde den Frauen eine Absage erteilt. Doch
die Warendorfer Frauen gaben sich damit nicht zufrieden und bestanden
darauf, einen Platz auf der Liste zu bekommen. Sie wiesen sehr deutlich
darauf hin, dass ja 50 Prozent der Wähler Frauen sind.
Alles Bitten war vergebens – sie bekamen nicht einen Platz auf
der Liste..
Im neuen Emsboten schrieb Natz Gliewenkieker am 18. April in
seiner Glosse: „Das Zentrum setzte sich für die Aufstellung einer Frau
ein, konnte aber die Forderung nicht durchdrücken. Die Frauenkandidatur
fiel, aber der Zorn der Frauen stieg, er stieg höher und höher und nun
haben wir die Bescherung: In Warendorf herrscht Krieg - trotz
Friedensgesellschaft. Die Frauen haben den Männern den Krieg erklärt. Ob
angesichts solcher unheildrohender Entwicklung der ein oder andere
Ehemann doch bedenklich wird und an Goethes Ansicht denkt: Die Frauen
sind silberne Schalen, in die wir goldene Äpfel legen! - Aber man wollte
keine silbernen Schalen im Rathaus haben und so können die Männer auch
keine goldenen Äpfel hineinlegen…“
Am 23. April fand im Gesellenhaus – so nannte man damals das
Kolpinghaus - eine Versammlung des Frauenbundes statt, auf der Frl.
Regierungsrat Dr. Laarmann einen sehr sachkundigen Vortrag über die
Mitarbeit der Frau in der Gemeinde hielt. Frl. Dr. Laarmann war
Dezernentin für die Wohlfahrtspflege und weibliche Jugendpflege bei der
Regierung in Münster. Sie betonte in ihrem Vortrag, dass Frauen ein
Recht auf Gleichberechtigung haben, das sie sich insbesondere durch ihre
„Kriegsarbeit“ erworben haben. Da haben sie nämlich unverdrossen neben
ihrer Arbeit im Haushalt die Arbeit der Männer mit verrichtet, in der
Landwirtschaft, in der Munitionsfabrik, in den Verwaltungen, in den
Lazaretten und wo auch immer Hilfe gebraucht wurde. Frauen sind für die
politische Mitsprache sehr wohl befähigt und können bei den oft
unvermeidlichen Meinungsverschiedenheiten ausgleichend und vermittelnd
wirken.
Die Frauen waren sich schnell einig, dass sie nun eigene Wege
gehen müssen, wenn die Männer ihren berechtigten Forderungen nicht
nachgeben wollen. Die Zeit drängte, denn die Wahl zum Stadtparlament war
auf den 4. Mai 1924 festgelegt, also in 11 Tagen. Nach intensiven
Diskussionen beschlossen die 60-80 anwesenden Frauen der Versammlung,
eine eigene Liste aufzustellen. So entstand am 23. April 1924 die erste
und einzige „Frauenliste“ in Warendorf.
Sieben angesehene Bürgerfrauen nahmen „das Opfer der
Kandidatur“ – so drückten sie sich aus - auf sich:
1. Frau Clara Schmidt, Landesobergerichtsratsfrau, Oststr. 39
2. Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin, Brede 13
3. Frau Theresia Kemner, Webersfrau, Petersiliengasse 2
4. Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau, Ostpromenade 6
5. Fräulein Paula Gildemeister, Telegraphen-Assistentin,
Oststr. 39
6. Frau Bäckermeister Theresia Heinermann, Kirchstraße 3
7. Frau Sparkassendirektor Gertrud Becker, Lange Kesselstraße 4
Sie wurde 1874 als Clara Gertrud Maria Willebrand als jüngstes
von sechs Kindern Oelde geboren. Ihr Vater Josef Ignatz Willebrand
(*1829) wurde 1879, als Clara 5 Jahre alt war, als Amtsgerichtsrat
Leiter des Amtsgerichts in Warendorf. Er war der Vorgänger von Wilhelm
Zuhorn, den wir ja als den Gründer des Heimatvereins gut kennen.
Amtsgerichtsrat Josef Willebrand kauft das Haus Oststraße 39, wo Clara
mit ihren Geschwistern aufwuchs. Prägend für die junge Clara war, dass
ihr Vater von 1892 bis 1908 Mitglied des Preußischen Abgeord
netenhauses
in Berlin war. So bekam sie schon früh einen Einblick in die große
Politik.
1895 heiratete Clara den damaligen Gerichtsreferendar Edmund
Schmidt, der Landesobergerichtsrat in Karlsruhe wurde. Die Ehe blieb
kinderlos, das gab Clara Schmidt den Freiraum, sich für den 1903
gegründeten Kath. Deutschen Frauenbund zu engagieren. Sie gründete 1909
den ersten Zweigverein in Karlsruhe und gehörte ab 1918 dem Reichsverein
des Frauenbundes an.
Nach
dem frühen Tod ihres Mannes Edmund zog Clara Schmidt 1920 zurück nach
Warendorf, um ihren hochbetagten Eltern zur Seite zu stehen. In ihrer
Heimatstadt wurde sie recht bald die rührige und ideenreiche Vorsitzende
des Warendorfer Kath. Frauenbundes als Nachfolgerin von Selma
Ewringmann, der Frau des Bürgermeisters Hugo Ewringmann.
Im Frauenbund wurden von Rektor Clemens Hugenroth und
Studienrat Dr. Franz Rohleder staatsbürgerliche Kurse abgehalten, um den
Frauen das nötige Rüstzeug zum politischen Denken und Handeln zu geben.
Bei den Zusammenkünften der Frauen wurden neben politischen Themen
insbesondere Mädchenschulbildung, Jugendfürsorge, Volksbildung, Kino,
Armenfürsorge und Betreuung der Wöchnerinnen diskutiert. Das neue
Wohlfahrtsgesetz brachte für die Städte viele neue Aufgaben. Und dabei
wollten die Frauen mitreden, denn, so schrieben sie in der Zeitung: „Es
gibt gewisse Dinge, wo ein Frauenzimmer schärfer sieht, als hundert
Augen der Mannspersonen!“ Dafür wollten sie eine Vertreterin ins
Stadtparlament entsenden. Da die Stände ihnen ja keinen Listenplatz
gewährten, mussten sie dafür sorgen, dass die Frauenliste Akzeptanz in
der Bevölkerung bekam.
Darum entfachten die Frauen eine rührige Propagandatätigkeit -
Wahlwerbung würde man das heute nennen. In Privatwohnungen fanden
Besprechungen und Versammlungen statt. Diejenigen Frauen, die über
genügend Zeit verfügten und redegewandt waren, gingen in den
verschiedenen Stadtteilen und in den Bauer-schaften von Haus zu Haus, um
für die sieben Kandidatinnen der „Frauenliste“ zu werben. Meistens
wurden sie freundlich aufgenommen. Vor allem die Hausfrauen brachten
ihnen viel Verständnis entgegen. Es kam aber auch vor, dass sie vom
Hausherrn angeknurrt wurden und zu hören bekamen: „Frauen gehören hinter
die Kochpötte und sollen lieber auf ihre Kinder aufpassen!“
Auch
die „Bürgerliche Verständigungsliste“ wurde sofort aktiv. Schon am
24.4., also am Tag nach der Begründung der „Frauenliste“ im Kolpinghaus,
veröffentlichten sie zusammen mit der Zentrumspartei im Neuen Emsboten
eine Erklärung, dass sie die Frauenliste nicht anerkennen,
unterschrieben von den Warendorfer Pfarrern und von hochangesehenen
Bürgern.
Ja, in ganz Warendorf wurde über die Kandidatur der Frauen
aufgeregt gestritten. In den Zeitungen war damals viel über die
Suffragetten in London und Berlin zu lesen, die für die Rechte der
Frauen auf die Straße gingen. Je näher der Wahltag rückte, umso
erhitzter entbrannte der Wahlkampf auch in Warendorf.
Der Stadtverordnetenvorsteher verkündete: „Solange ich im
Rathaus bin, kommt kein Unterrock ins Stadtparlament!“
Je eifervoller die Frauen ihre Rechte verteidigten, umso
hartnäckiger wurden die Männer. „Keine Frau soll ins Rathaus einziehen!“
Zur Bekräftigung dieses Schwurs legten drei honorige Bürger in Mimi
Temmes Gastwirtschaft am Marktplatz sogar 300 Mark unter ihre
Altbierpötte. Die sollten verwettet sein, falls auch nur ein
Frauenzimmer ins Rathaus einzieht.
Die
Kunde von den mutigen Frauen in Warendorf verbreitete sich über ganz
Deutschland. Die großen Zeitungen in Köln, Hannover und Hamburg brachten
lange Artikel mit den Schlagzeilen:
„ Amazonenschlacht in Warendorf!“
„Da werden Weiber zu Hyänen!“
„ Schmerz, lass nach!“
„ Frauen kämpfen um ihr Recht!“
Auch im Ausland machten die Warendorfer Frauen von sich reden.
Ein Londoner Blatt titelte: „Wir beglückwünschen und grüßen die
Warendorfer Suffragetten!“
Je näher die Wahl kam, umso hitziger wurde die
Auseinandersetzung. Die letzten Tage und Nächte waren so zermürbend,
dass manche der engagierten Frauen Angst vor ihrer eigenen Courage
bekam.
Flugblätter und Wahlplakate, auf denen die Frauen lächerlich
gemacht wurden, flatterten in die Häuser und wurden an Litfaßsäulen,
Mauern und Bäumen angeschlagen.
Die
Ehemänner wurden bedrängt, ihre Frauen an der Leine zu halten, was
wiederum die Frauen herausforderte, zu erklären, sie seien Manns genug,
mit ihrem Stimmzettel gegen die Männer zu kämpfen.
Spottgedichte wurden verfasst und vertont und mit
Musikbegleitung und der dicken Trommel nächtens vor den Häusern der
kandidierenden Frauen gesungen.
Am Tag vor der Wahl kämpften die Vertreter der
Verständigungsliste in der Presse mit harten Bandagen. In den
Westfälischen Nachrichten veröffentlichten sie unter dem Titel: Was gibt
es …wenn die streitbare kleine Gruppe einen Sitz im
Stadtverordneten-Kollegium bekommt? Mit semmelsüßen Redensarten werden
die Bürger eingewickelt. Die Politik wird dann in Kaffeeklatschen
fabriziert und mit Gefühl serviert werden. Gelegentlich werden auch
lyrische Gedichte vorgetragen. Solche Genüsse verderben auf die Dauer
den besten Magen, darum ist die gute, derbe Hausmannskost das Beste,…
darum wählt jeder vernünftig Denkende, Frau und Mann, nur die
„Bürgerliche Verständigungsliste“.
Oder in dem Beitrag: „Frauendämmerung“.
Warendorf steht in ganz Deutschland einzig da mit seiner
Frauenliste infolge des Vorgehens einer kleinen Gruppe sich revolutionär
gebärdender Frauen. Aber es dämmert allmählich, weil ihnen die Felle
wegschwimmen, denn der gesunde Menschenverstand der Arbeiter,
Handwerker, Landwirte, Gewerbetreibenden
und
Beamten (Männer und Frauen) betrachtet dieses eigenmächtige Vorgehen
einer kleinen Gruppe Frauen als Anmaßung und Pantoffelpolitik. Es ist
selbstverständlich und klar, daß jeder recht denkende Mensch nur die
„Bürgerliche Verständigungsliste“ wählen kann.
Ja, diese Frauen bekamen eisigen Gegenwind und brauchten
wirklich Mut!
Endlich kam der wichtige Wahltag, der 4. Mai 1924. Die
Wahlbeteiligung war überwältigend. Eine fast unerträgliche Spannung
herrschte in der ganzen Stadt. Es war in Warendorf üblich, dass sich an
Wahlabenden die interessierten Wähler im Kolpinghaus versammelten, um
die Resultate aus den Wahlbezirken telefonisch in Empfang zu nehmen. Als
unübersehbar wurde, dass die Frauenliste viele Stimmen bekommen hatte,
wurden die Gesichter der Gegner immer länger. Kreideweiß um die Nase
stellte ein Bürger fest: „Ich glaube, die kriegen wahrhaftig eine drin!“
Das Unglaubliche geschah: Die Frauenliste bekam 782 Stimmen,
das waren über 20 Prozent der Stimmen. Die ersten vier Kandidatinnen der
Frauenliste konnten ins Stadtparlament einziehen:
Frau Clara Schmidt, Vorsitzende des Kath. Frauenbundes
Fräulein Johanna Schwarte, Jugendfürsorgerin
Frau Theresia Kemner, Webersfrau
Frau Frieda Schräder, Kaufmannsfrau
Die Mehrheit lag nach wie vor bei der Verständigungsliste des
Zentrums mit 2406 Stimmen, das waren 12 Mandate. Die Sozialdemokraten
bekamen wieder nur 2 Mandate (481 Stimmen). Das war ein schwerer Schock
für die Ratsherren.
Am
5. Mai 1924 kommentierte der Neue Emsbote: Die Warendorfer
Stadtverordnetenwahl hat weit über Stadt und Kreis Warendorf, ja über
Westfalen hinaus, das Interesse weiter Kreise wachgerufen, und zwar
infolge der Aufstellung einer besonderen „Frauenliste“ gegenüber den
Männern. Heute kann die ganze Frauenwelt Deutschlands mit Genugtuung auf
den Erfolg ihrer Warendorfer Vorkämpferinnen hinblicken.“ Dann
allerdings meinte die Zeitung die Kurzlebigkeit der Frauenliste
prognostizieren zu können: „Die Warendorfer Männer und Frauen werden
sich bald wiederfinden, denn kein Mann in ganz Deutschland kann seine
Frau so schlecht entbehren wie der Warendorfer, wenn er hinterm
Altbierpott sitzt und seine Frau geduldig und liebevoll Haus und Hof
bewahrt.“
Auch
nach Amtsantritt in der Stadtverordnetenversammlung mussten sich die
gewählten Frauen noch manche Demütigungen gefallen lassen. So wurde in
der ersten Ratsversammlung nur kurz beraten. Dann erklärte der
Stadtverordnetenvorsteher: „Ich schließe hiermit die Versammlung und
bitte die Herren, mit mir ins Nebenzimmer zu gehen.“ Die vier Frauen
waren ausgeschlossen.
Zu Fronleichnam gab es traditionell die große Stadtprozession.
Jeder Ratsherr rechnete es sich zur Ehre an, hinter dem Allerheiligsten
gehen zu dürfen. Nun stellte sich die bange Frage: „Sollen die Frauen
bei der Prozession mit den Ratsherren gehen?“ So etwas hatte es noch nie
gegeben! „Frech genug wären die ja!“ flüsterten sich einige Bürger
hinter vorgehaltener Hand zu. Aber die gewählten Frauen ließen sich
nicht verblüffen: Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Ratsherrinnen zogen
ihr Schwarzseidenes an und die weißen Glacéhandschuhe und mischten sich
unter die Ratsherren. Das Aufsehen und das Getuschel waren groß! Noch
nie hatten so viele Zuschauer bei einer Prozession am Straßenrand
gestanden.
Als bei der Einführung des neuen Bürgermeisters Rudolf
Isphording und dem nachfolgenden Festessen der Oberpräsident der Provinz
Westfalen Johannes Franz Gronowski aus Münster auf die vier Damen zuging
und sich angeregt mit ihnen unterhielt und sogar eine der Damen zu Tisch
führte, gewannen die Frauen auch bei den Ratsherren an Ansehen.
Die Gemüter beruhigten sich, die Spannung ließ nach und es kam
zu einer einträchtigen und nutzbringenden Zusammenarbeit im Rathaus. Die
Stadtverordneten des Zentrums zeigten sich zugängig für die Anliegen der
Frauen, die ja alle aus einem zentrumsnahen Umfeld kamen. Bei der
nächsten Wahl 1929 war es eine Selbstverständlichkeit, dass zwei Frauen
mit auf die Wahlliste kamen, Clara Schmidt und Elisabeth Schwerbrock.
Der Kampf der mutigen Frauen war beispielhaft und machte in ganz
Deutschland Schule.
Clara Schmidt blieb Stadtverordnete bis 1933. Dann legte sie
ihr Mandat nieder, weil sie den Nationalsozialisten nicht dienen wollte.
Sie lebte bis zu ihrem Tode 1949 in Warendorf an der Oststraße 39.
2018
benannte die Stadt Warendorf auf Vorschlag des Heimatvereins eine Straße
in dem neuen Baugebiet am Friedhof „Clara-Schmidt-Straße“, um die
mutigen Frauen nicht zu vergessen.
Sufragetten in Berlin 1912
Mechtild Wolff
Quellen: Clara Schmidt: Aufzeichnungen und Zeitungsberichte
Laura Enders: Bericht über den Wahlkampf der Frauenliste,
Bilder: Zeitungsberichte und Plakate: Mechtild Wolff
Bild: Clara Schmidt, Archiv der Altstadtfreunde