Der Fortschritt besteht nicht darin, das Gestern zu zerstören,
sondern seine Essenz zu bewahren,welche die Kraft hatte, das bessere
Heute zu schaffen.
Ortega y Gasset
Seit Jahrhunderten lebten die Menschen hier vom Weben. Das
berühmte Warendorfer Linnen brachte den Händlern Wohlstand, die Stadt
erblühte und die prächtigen Bürgerhäuser aus dieser Zeit prägen noch
heute das Stadtbild. Die einfachen Weber aber blieben arme Schlucker und
es gibt kaum eine andere Stadt, die so viele Gademe, also „Arme
Leute-Häuser“ hat, wie Warendorf. Diese Gademe waren meistens
Weberhäuschen. Hier klapperte den ganzen Tag der Webstuhl, der im
„Weberwinkel“ stand.
1861 kam die Industrialisierung auch nach Warendorf
und es entstand die erste mechanische Weberei „Brinkhaus und Wiemann“.
In Sassenberg trieb jetzt die Dampfmaschine die Spindeln der Spinnerei
Rath an und um 1900 wurden auch in Freckenhorst mechanische Webereien
gegründet, in denen der beliebte Plüsch gewebt wurde. Sie alle brachten
einen beachtlichen Wohlstand für sehr breite Schichten der Bevölkerung.
Kreimer Velours
Gebrasa Wolle
Brinkhaus Inlett
Und unsere Generation erlebte den für viele sehr schmerzlichen
Niedergang der Textilindustrie. Geräuschlos verschwanden die einst
blühenden Textilfirmen, die europaweite, ja weltweite Bedeutung gehabt
hatten. Die Politik kümmerte sich nur um die Probleme von Kohle und
Stahl, die Textilindustrie hatte keine Lobby, sie war dann einfach weg.
Sehr zum Schaden der Menschen, die ihren Arbeits-platz verloren und auch
zum Schaden der oft kleinen Gemeinden, die nicht nur wegen des hohen
Steueraufkommens erblüht waren, sie hatten auch sehr von der tiefen
Verbundenheit der Firmen mit der Heimatgemeinde partizipiert. Immer,
wenn Vereine, Schulen, die Kirchengemeinde oder die Dorfgemeinschaft
etwas brauchte, was man sich eigentlich nicht leisten konnte, ging man
zu den Firmenchefs und kam eigentlich nie mit leeren Händen wieder. All
das gibt es heute nicht mehr! Ja, es ist sogar in Vergessenheit geraten,
dass Städte wie Warendorf, Freckenhorst und Sassenberg Jahrhunderte lang
von der Weberei gelebt haben - zuerst von der Leineweberei und später
von der Textilindustrie.
Um diese textile Vergangenheit wieder lebendig zu machen, hat
der Heimatverein sich entschlossen, die bedeutenden Textilfirmen dieser
Region mit ihren Produkten in einer Ausstellung darzustellen.
Das Ausstellungsteam, bestehend aus Kajo Ludorff, Marita Klaus,
Wolfgang Jäger, Beatrix Fahlbusch, Gisela Gröne, Gunhild Kimmina und mir
hat sich über ein Jahr lang mit der Konzeption der Ausstellung befasst.
Es herrschte sehr schnell Einigkeit, dass wir uns nicht auf die
Kernstadt Warendorf beschränken wollten, sondern den Bereich Warendorf,
Freckenhorst und Sassenberg als zusammen-gehörendes Textilzentrum
betrachten wollten. Die Stadt Waren-dorf, hier vertreten durch den
stellv. Bürgermeister Erich Tertilt und Horst Breuer, hat uns die
Ausstellungsräume im Rathaus zur Verfügung gestellt und die Aufsicht
gewährleistet. Von der Kulturstiftung der Sparkasse bekamen wir eine
finanzielle Unterstützung.
Am 6. November 2016 konnte die Ausstellung eröffnet werden und die
vielen Besucher bekamen einen ersten Eindruck von der Vielseitigkeit
unserer Textilregion.
Im
1. Raum, dem Bürgermeisterzimmer, konnte man am Zeitstrahl verfolgen,
welche geschichtlichen Ereignisse die Entwicklung der Handweberei und
der Industrialisierung beeinflussten. In der Leseecke lagen begleitende
Schriften mit vielen Hintergrundinformationen aus. Sie wurden gerne in
Anspruch genommen.
Der nächste Raum war der Handweberei gewidmet. Spinnrad,
Webstuhl, Haspel und Hechelbock und viel Anschauungsmaterial zu Flachs
und Leinen machte deutlich, wie viel Arbeit und Mühe notwendig war, ehe
das feine Leinen als Stolz der Hausfrau im Leinenschrank lag.
Ein
ganz besonderer Hingucker war das nahtlose Hemd des begnadeten
Handwebers Johann Peter Stoffels aus Freckenhorst und die alten
Freckenhorster Weberfahnen, an denen man die Entwicklung der Weberei
schön ablesen kann.
Ein außergewöhnliches Schmuckstück war das Leinentuch mit dem
eingewebten Bildnis der Königin Luise von Preußen. Es wurde vielleicht
von den tüchtigen Webern der Warendorfer Leinen- und Damastweberei
„Anton Eickholt & Erben“ gefertigt. Diese fortschrittliche Handweberei
an der Langen Kesselstraße hatte schon 1839 die Aussteuer der Königin
Victoria von England auf ihren Jaquardt-Webstühlen gewebt. Von König
Friedrich Wilhelm IV. von Preußen bekam Eickholt den ehrenvollen
Auftrag, die königliche Tischwäsche und Mundtücher herzustellen, in die
kunstvoll der Namenszug der Königin und ein Bild von Burg Stolzenfels am
Rhein eingewebt waren. Das war ganz hohe Kunst der Handweberei.
Die
innovativen Kaufleute Hermann Josef Brinkhaus und Eduard Wiemann
brachten 1861 mit der ersten mechanischen Weberei „Brinkhaus und
Wiemann“ die Industrialisierung nach Warendorf - ein neues Zeitalter
brach an. Aus dem verarmten Landstädtchen wurde ein Zentrum der
Textil-industrie und Warendorf erlebte einen Auf-schwung, die Bürger
kamen wieder zu Wohlstand. Nach der Trennung der beiden Gründer
entstanden die Firmen „H. Brinkhaus“ auf der Emsbleiche und „Wiemann und
Bispinck“ an der
Kirchstraße - diese beiden Gebäude sind bis heute erhalten und
wir konnten sie sogar im Original zeigen, man brauchte nur aus dem
Fenster zu schauen.
Bald
kamen weitere Gründerzeitfirmen dazu, die Firma „Oberstadt“ die Firma
„Ludorff und Neuhaus“ und viele mehr. Sie alle stellten bunte
Baumwollstoffe aller Art her und lieferten sich einen erbitterten
Konkurrenzkampf. Da war es bahnbrechend, dass die Firma „H. Brinkhaus“
sich 1911 auf Inlett spezialisierte und zur bedeutendsten Inlett- und
Federbettenfabrik Europas wurde, die zeitweise über 1000 Mitarbeiter in
Arbeit und Lohn hatte. Mit vielen alten und neueren Bildern wurde der
Arbeitsalltag, aber auch Feste und Feiern der Brinkhäuser dargestellt.
Viele ehemalige Mitarbeiter erfreuten sich an den Erinnerungen an die
Blütezeit ihrer Firma. Mit einer Vielzahl von Raumtexten wurde hier,
wie auch in allen anderen Räumen, die Geschichte der Industrialisierung
lebend gemacht.
Geschäftsführung Brinkhaus
In diesem Ausstellungsraum wurde auch an die Firma Zurwieden aus
Freckenhorst erinnert, die Inlett und Fertigbetten für höchste Ansprüche
herstellte. Das schöne rote Inlett, die Kollektionskarten und die
spannende Firmenchronik des letzten Chefs Heinz Zurwieden geben ein
anschauliches Bild dieser ältesten Freckenhorster Inlettweberei.
Der nächste Raum war der Freckenhorster Textilindustrie gewidmet. In Freckenhorst wurde schon zur Zeit der Handweberei vornehmlich Plüsch gewebt. 1900 wurde die „Erste Freckenhorster mechanische Plüschfabrik“ gegründet, die später als Firma Jostmann bekannt wurde. 1907 wurde die Firma „Hermann Breede“ gegründet, die sich auf Mohair-Velours spezialisierte, den sie schon früh bis nach Shanghai exportierte. Auf dem Tisch lag eine Breede-Mohairs-Kollektion und je-der Besucher konnte das ganz besondere Feeling dieses Produktes
erfühlen.
Zur bedeutendste Veloursweberei entwickelte sich die Firma
„Theodor Kreimer“, die 1913 von Theodor Kreimer gegründete wurde und
schon bald in alle Welt exportierte. Nach dem 2. Weltkrieg ging sein
Schwiegersohn Hubert Wolff mit dem Dralon-Velours neue Wege und konnte
mit diesem praktischen und preis-werteren Produkt die Firma Kreimer zu
einem der größten Velourshersteller Europas ausbauen. Kreimer-Velours
be-fand sich auf fast jedem Sofa und jedem Sessel, auch in Autos, im ICE
der Bundesbahn und in Flugzeugen saß man auf Kreimer Velours. Kissen,
Fotoalben, Wimpel und viele schöne kleine Dinge, die eigentlich mehr der
Werbung dienten, sind erhalten geblieben und konnten die vielfältige
Produktpalette der Firma Kreimer zeigen.
Auch das Kreimersche Sozialengagement in der Nachkriegszeit
wurde in einer Vitrine voller Dankschreiben eindrucksvoll dargestellt.
Im
nächsten Raum erfuhren die Besucher viel über die Geschichte der
Wollresidenz der Gebr. Rath in Sassenberg. Jodokus Henricus Rath und
sein Enkel Christian gründeten 1858 die „Wollspinnerei und Tuchfabrik“
im alten Residenzschloss. Unter dem Namen „Gebrasa Wolle“ entwickelte
sich die Firma zu der führenden Spinnerei für Kamm-garne, Streichgarne
und Handstrickgarne. Diese Werbe-schilder erkannten viele Besucher
sofort, sie waren früher auf jedem Bahnhof zu sehen.
Schon
1925 kamen die Kaufleute Bruns und Debray auf die Idee, aus den vielen
in Warendorf herge-stellten Stoffen Berufsbekleidung zu nähen, erst
schwerpunktmäßig für die Bergleute und heute ist die Firma „Bruns und
Debray“ spezialisiert auf Berufsbekleidung mit eingesticktem Firmenlogo.
Eine typische Nachkriegsgründung war die
Schürzennäherei „Dieckhoff“. Josef Dieckhoff nähte die ausschließlich
weiße Schürzen und belieferte die großen Versandhäuser Deutschlands.
Nicht nur Krankenschwestern brauchten weiße Schürzen, auch die gute
Hausfrau trug sonntagsmorgens die frisch gestärkte weiße Schürze, genau
so die kleinen Mädchen.
In
den Nachkriegsjahren gründete auch Karl Schnepfe eine Näherei. Er
stellte exklusive Damenmode in Warendorf am Affhüppen Esch her. Die
Firma Schnepfe nähte schicke Mäntel, Jacken und Kostüme, elegant mit
Pelz besetzt und gefüttert, die in den besten Häusern Deutschlands
verkauft wurden. Auch die Warendorferinnen kauften gern im
Schnepfe-Fabrikverkauf die schicke Kleidung.
Damit sind wir am Ende der Ausstellung angekommen und der
letzte Warendorfer Handweber, gemalt von Elli Grützner, entlässt
uns aus der Welt des Spinnens und Webens und Nähens.
Unsere Ausstellung „Kette und Schuss“ ist auf sehr
großes Interesse gestoßen. Wir konnten 2721 Besucher begrüßen - ein sehr
erfreuliches Ergebnis. Vielleicht haben wir die textile Vergangenheit
wieder etwas in den Fokus rücken können.
Weil eine Ausstellung nicht die ganze Bandbreite dieses Themas
darstellen kann, haben wir in den sonntäglichen Textilgesprächen die
einzelnen Themenbereiche detaillierter vorgestellt. Z. B. hat Wolfgang
Jäger den Zeitstrahl erklärte, Gisela Gröne hat einen Nachmittag mit
Kindern gestaltet, an dem sie das Spinnen und Weben ausprobieren
konnten, ich habe aus der Geschichte der Firma Brinkhaus erzählt und
Manfred Koch hat den Arbeitsalltag der ehemalige Brinkhäuser lebendig
werden lassen. Bei dem Textil-gespräch über die Weberstadt Freckenhorst
konnte ich diese eleganten Sonnenschirme zeigen, die aus der
Schirmfabrik von Johann Peter Stoffels stammen und Johanna Brinkhaus
gehört haben, der Frau des Firmengründers Hermann Josef Brinkhaus.
Beatrix Fahlbusch hat über die Firma Gebrasa der Gebr. Rath aus
Sassenberg informiert. Das waren nur einige Beispiele der sonntäglichen
Textilthemen. Viele ehemalige Mitarbeiter haben uns informative und oft
lustige Einzelheiten aus dem Arbeitsalltag in den Textilfirmen erzählt.
Am
29. Januar 2017, dem letzten Tag der Ausstellung, haben wir zu einer
Vernissage geladen und viele, viele Freunde der textilen Vergangenheit
kamen. Es sollte ein informativer und fröhlicher Abschluss sein unter
dem Motto: „Nostalgie pur“. Nach einem Rückblick und Dank an alle
Aktiven sang der Tuchmachergeselle Heinz Hellmann das Freckenhorster
Weber-lied und bevor die Textil-freunde in ein buntes Kaleidoskop von
ganz vielen nostalgischen Bil-dern aus alten Zeiten bei einem Glas Wein
eintauchen konnten, unternahm Norbert Funken eine amüsante „Fahrt ins
Blaue“ (in die blau blühenden Flachsfelder) und zeigte, wie in unserer
Sprache, in Sprichworten und Redensarten, in Gedichten und Liedern das
Spinnen, Hecheln und Weben noch immer präsent ist. Nie verlor er bei der
amüsanten Auflistung der Redensarten „den Faden“, er hatte immer „alle
Fäden in der Hand“, verfolgte zielgenau den „roten Faden“, blieb mit den
Zuhörern „auf Tuchfühlung“, kriegte sich aber nicht mit ihnen „in die
Wolle“ und wollte sie auch nicht „durch die Zähne ziehen“ (gemeint sind
die Zähne des Hechelkamms). Und das Publikum rief auch nicht: „Der
spinnt ja wohl.“ und „flachste“ mit ihm, wenn er sie alle „über einen
Kamm scheren“ wollte.
Mechtild Wolff
Vorsitzende des Heimatvereins Warendorf e.V.